Düsseldorf Was Soldaten einander erzählten

Düsseldorf · Zwischen 1940 und 1945 haben Briten und Amerikaner gefangene Soldaten der Wehrmacht in ihren Zellen abgehört. Die Protokolle ihrer Gespräche sind verstörende Zeugnisse von Verrohung und Gewalt. Die Wissenschaftler Sönke Neitzel und Harald Welzer haben sie jetzt ausgewertet.

Von solchen Funden träumen junge Wissenschaftler: Im November 2001 arbeitete der Historiker Sönke Neitzel, damals 33 Jahre alt, im britischen Nationalarchiv in London und stieß in einem Buch über die Wende in der Atlantikschlacht 1943 auf einige Seiten Abhörprotokolle deutscher U-Boot-Fahrer. Neitzel ging der Quelle nach und hatte kurz darauf ein 800 Seiten starkes Aktenbündel auf dem Tisch, zusammengehalten nur durch einen Bindfaden. Es waren die Mitschriften von Gesprächen deutscher Kriegsgefangener, die in ihren Zellen vom britischen Geheimdienst im September 1943 abgehört worden waren.

Das war nur der Anfang. Neitzel forschte weiter, verfolgte auch eine Spur in die USA und trug schließlich 150 000 Seiten solcher Lauschprotokolle zusammen, die wiedergeben, was Wehrmachtssoldaten aller Waffengattungen und Dienstgrade sich in verwanzten Zellen zu erzählen hatten. Die Briten hatten unter ihren Gefangenen vor allem Soldaten der Wehrmacht-Elite ausgesucht, um sie in dem Herrensitz Trent Park im Norden Londons auszuhorchen. Die Amerikaner zeichneten in Fort Hunt in Virginia Gespräche einfacher Soldaten auf, um sich ein Bild von der Mentalität ihres Gegners zu machen.

Dieses Material ist einzigartig, weil es Einblicke gibt in die Einstellung deutscher Soldaten mit unterschiedlichem sozialen Hintergrund und diversen Militär-Karrieren. Außerdem sprechen die Männer unter sich recht ungefiltert. Imponiergehabe mag zwar eine Rolle spielen, doch anders als etwa in Feldpostbriefen oder bei Verhören verfolgen die Erzähler keine Absicht, wollen weder Mütter beruhigen noch Verhöroffiziere gnädig stimmen. Unter Kameraden konnte man offen reden.

Kein Wunder, dass auch der Sozialpsychologe und Täterforscher Harald Welzer "elektrisiert" war von dieser Quelle und auf das Angebot einging, das Material gemeinsam mit Neitzel auszuwerten. Ein erstes Ergebnis ihrer Analyse liegt nun vor: "Soldaten" haben Neitzel und Welzer ihr Buch genannt. Ein schlichter Titel, sind darin doch grauenvolle Aussagen zu lesen wie die von Unteroffizier Fischer, Pilot einer Me 109, aus dem Jahr 1942: "Ich sage dir, ich habe vielleicht schon Leute umgelegt in England. Ich hieß in unserer Staffel ,der Berufssadist'. Ich habe alles umgelegt – Autobus auf der Straße, Zivilzug in Folkestone. Wir hatten Befehl, unten in die Städte hineinzuschmeißen. Jeden Radfahrer habe ich beschossen." Ein anderer Pilot erzählt vom Bombenabwerfen in Polen: "Am dritten Tage war es mir gleichgültig und am vierten Tage hatte ich meine Lust daran. Es war unser Vorfrühstücksvergnügen, einzelne Soldaten mit Maschinengewehren durch die Felder zu jagen und sie dort mit ein paar Kugeln im Kreuz liegen zu lassen." Den weiteren Bericht darüber, wie sie Mensch und Tier beschossen, beschließt der Soldat mit den Worten: "Die Pferde taten mir leid, die Menschen gar nicht. Aber die Pferde taten mir leid bis zum letzten Tag."

Die Soldaten erzählen ohne Skrupel von Massenerschießungen, Vergewaltigungen, der Ermordung von Juden. In einem Satz schwärmen sie noch von der russischen Musik, im nächsten von der Erschießung russischer Gefangener und geben offen zu, wie es "prickelt", Bomben zu werfen, wie es "Spaß macht", auf Marktplätzen in Menschenmengen zu schießen.

Wie repräsentativ solche Aussagen für das Material sind, kann der Leser leider nicht beurteilen, denn "Soldaten" gibt die Abhörprotokolle nicht umfassend wieder, sondern liefert nur Zitate, die belegen sollen, was Neitzel und Welzer nach ihrer Analyse des gewaltigen Textkorpus' für symptomatisch halten. Demnach zeigen die Protokolle, wie schnell sich Männer im Krieg an Gewalt gewöhnen, wie sie Taten begehen, die heute als Teil des Vernichtungskrieges und des Holocaust gelten, dies aber als Partisanenbekämpfung verstehen oder gar nicht erst zu rechtfertigen versuchen.

Dass Wehrmachtssoldaten in den Holocaust verstrickt waren, wird in der Wissenschaft heute nicht mehr bestritten. Bemerkenswert an der Analyse von Neitzel und Welzer ist vielmehr, dass sie in den deutschen Soldaten gerade keine "Weltanschauungskrieger" sehen. Was sie taten, sei nicht typisch deutsch oder typisch Nazi gewesen, sondern zeige nur, was Menschen zu tun bereit sind, wenn sie in den "Handlungszusammenhang Krieg" geraten, der moralische Vorstellungen verschiebt. An Ideologie, Politik, Weltordnung und dergleichen seien die meisten Soldaten aus den Protokollen nicht interessiert. "Sie führen keinen Krieg aus Überzeugung, sondern weil sie Soldaten sind und Kämpfen ihre Arbeit ist", so die Autoren. Nicht Daniel Goldhagens "willige Vollstrecker" seien in den Krieg gezogen, sondern "Menschen, die handeln, wie sie glauben, dass es von ihnen erwartet wird". Das habe vor allem mit den Gruppen zu tun, deren Teil sie sind. Für die Autoren ist also der Krieg schuld daran, dass Soldaten tun, was sie tun – nicht die Ideologie.

Dann muss man allerdings fragen, warum nicht alle Kriege gleich verlaufen, warum es etwa in Russland so viel mehr zivile Opfer gegeben hat als bei anderen Feldzügen. Fraglich ist auch, ob Soldaten tatsächlich unbeeinflusst sind von Ideologie, nur weil sie laut den Protokollen untereinander nicht darüber sprechen.

Den Massenmord an den sowjetischen Kriegsgefangenen und die Ermordung der Juden können die Autoren am Ende auch nur wieder durch die Nazi-Ideologie erklären. Soldaten während der NS-Zeit hätten verinnerlicht, dass Menschen ungleich seien, Slawen etwa weniger wert. Damit stellen Neitzel und Welzer ihre These von der geringen Bedeutung der Ideologie selbst infrage. Gleichwohl ist es eine Leistung ihrer Studie, den Blick dafür zu schärfen, dass Krieg zu allen Zeiten die ethischen Maßstäbe verrückt. Das bleibt die Zumutung bis heute.

(RP)
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