Das Weltwissen einer Sechsjährigen

Der herzerwärmende Film "Das Glück der großen Dinge" erzählt von dem Mädchen Maisie, dessen Eltern sich scheiden lassen. Die Produktion kommt ohne Tränen aus, und der kleinen Hauptdarstellerin zuzusehen, ist eine Freude.

Maisies Eltern streiten ständig, und man hört den Satzfetzen und Betonungen, die ins Kinderzimmer dringen, an, dass diese Gewitter nichts Reinigendes mehr haben, dass längst alles verloren ist. Maisies Eltern trennen sich, die Sechsjährige wird sozusagen aufgeteilt, sechs Monate zur Mama, den Rest des Jahres zum Papa, und sie erträgt das mit einem Gleichmut, der rührend ist, der bewirkt, dass man dieses Kind ständig in den Arm nehmen möchte, obwohl es das wahrscheinlich gar nicht wollen würde.

"Das Glück der großen Dinge" heißt dieser kluge, sensible und unbedingt sehenswerte Film aus dem New York der Gegenwart. Maisies amerikanische Mutter (Julianne Moore) ist eine Rock-Sängerin, der englische Vater (Steve Coogan) handelt mit Kunst, beide sind erfolgreich in ihren Jobs, sie können sich selbst verwirklichen, wenn sie auf der Bühne stehen oder in den Galerien, aber sie vergessen darüber, dass sie eine Tochter haben. Maisie erträgt es mit Langmut, sie schmiert sich selbst ein Brot, wenn die Eltern einander beschimpfen, manchmal bestellt sie Pizza, öffnet die Tür und bezahlt den Boten, denn sie weiß, in welcher der sündteuren Ming-Vasen der Notgroschen verwahrt wird.

Nun gibt es viele Filme zum Thema Scheidung, aber dieser ist anders, er ist besonders, denn er macht sich die Perspektive des Kindes zu eigen. Die Kamera versucht mit den Augen des Mädchens in die Welt zu blicken, sie stößt vor erwachsene Knie, steht vor verschlossenen Türen, und manchmal wirkt die Szenerie verschwommen, vom Schleier der Arglosigkeit verhüllt. So braucht die Erzählung keine Tränen, sie kommt ohne Gefühlsausbrüche aus, denn Eindringlichkeit gewinnt sie durch ihre Hauptfigur, durch Maisie, die von Onata Aprile großartig gespielt wird.

Das ist eine Geschichte aus den Apartments in den extra-teuren Gegenden, nicht soziale Verwahrlosung soll ins Bild gesetzt werden, sondern emotionales Unbehagen, das Gefangensein in den Verhältnissen, die Unauflösbarkeit des Absichtslosen. Die Eltern kämpfen vor Gericht um das Sorgerecht, die Mutter heiratet einen Barkeeper (Alexander Skarsgard), der Vater das Kindermädchen (Joanna Vanderham), und beide versichern Maisie, sie täten es nur für sie. Maisie zieht von Mama zu Papa, manchmal vergisst jemand, sie abzuholen, weil ein Anruf wichtiger war, aber Maisie weint nicht oder jammert, sie riecht dann an einem Blumenstrauß oder schaut auf das Deckenmosaik eines alten Gebäudes. Sie macht es sich schön – so gut das eben geht.

Dem Drehbuch liegt der Roman "What Maisie Knew" von Henry James zugrunde. Er erschien 1897, und darin geht es um Machtverschiebungen, die nicht beschrieben oder von einer erklärenden Erzählerinstanz betont, sondern allein in ausschweifenden Gesprächen zum Ausdruck gebracht werden. Aus den subtilen Dialogen muss der Leser jene sensorischen Daten herauslesen, die den Worten Sinn verleihen, und am Ende spürt er, dass sich zwischen den Charakteren etwas verändert hat. Man kann diesen Text kaum auf die Leinwand übertragen, es ist unheimlich schwierig, Bilder für die Beobachtungsströme zu finden. Aber dem Regie-Duo Scott McGehee und David Siegel gelingt es doch, und sogar die Übertragung in die Gegenwart ist glaubhaft. Die beiden gehen von der Frage aus, wie das Bewusstsein Sinneseindrücke verarbeitet, das ist ein intellektueller Zugang, aber sie schicken Maisie vor, deren gerades, tapferes und unverderbbares Durchschreiten der Wirklichkeit so herzlich ist und den Film zum Ereignis macht.

Wer Kinder hat, lernt viel über sich selbst, sagt man, und wenn Maisies Eltern die Tochter ansehen, fühlen sie sich zumeist ertappt. Sie sehen im Gesicht des Kindes die eigene Unbestimmtheit, die eigene Hilflosigkeit. "Was soll ich singen?", fragt die Mutter Maisie abends, als sie sie zu Bett bringt. "Eines von deinen Liedern", bittet Maisie. Die Mutter überlegt kurz und antwortet: "Die sind vielleicht nicht so gut zum Einschlafen geeignet." Maisies Blick auf die Erwachsenen ist häufig von Treppengittern, Fenstern und Türen verstellt. Zu dieser Welt hat sie keinen Zutritt, und da sie weiß, dass die Großen aus Zeit- und Interessenmangel ihrerseits nur selten den Schritt in Masies Welt wagen, arrangiert sie sich mit ihrem Schicksal, viel zu wissen, aber wenig zu verstehen.

Im Roman heißt es, Maisie betrachte das Leben wie ein Schauspiel, das eigens für sie aufgeführt werde. Sie ahnt den Ausgang des Stücks, doch sie kann sich keinen Reim darauf machen. Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass Maisie durch ihr einfaches Sosein Menschen zusammenbringt, sie stiftet Liebe, könnte man sogar sagen.

Ob sie sich dieser Fähigkeit bewusst ist, bleibt unklar, sicher ist nur: Sie weiß, dass es sich nicht lohnt, traurig zu sein. llll

(RP)
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