Lindbergs Weltgeschichten (29) Es ist noch Hass da

Berlin (RPO). Lindberg lebt im Jahr 2060, ist 75 Jahre alt und berühmt und entschließt sich, seine Memoiren zu schreiben. Jeden Freitag veröffentlicht er hier ein weiteres Kapitel. Diesmal beschäftigt er sich mit dem Notizbuch der Kreativen.

 Mmmm lecker... und wo ist das richtige Essen?

Mmmm lecker... und wo ist das richtige Essen?

Foto: Jens Schierenbeck, tmn

2011

Ich habe noch eine Menge Hass übrig für dieses Kapitel, aber dieser Hass ist begründet. Ich möchte von Dingen erzählen, die mich in jenem Jahr sehr umtrieben. Und es waren keine Naturkatastrophen, keine Kriege, kein Terroranschlag. Mein Hass galt ganz allein Dingen, die in dieser Welt noch weniger verloren hatten, aber sich noch hartnäckiger hielten: das Buffet und das Moleskine-Notizbuch. Ich möchte mit dem letztgenannten beginnen.

In den Reihen der weißen, kreativen Mittelschicht ging damals eine riesige Angst um. Die Angst, die eigenen tollen Gedanken, die ihnen so unter der Dusche oder im Café einfielen, in ein ganz gewöhnliches, ja geradezu stinknormales Notizbuch schreiben zu müssen. Deshalb trugen sie immer ein Notizbuch der Marke Moleskine mit sich herum.

Eher hätten die Werber, Architekten und Jungschriftsteller ohne ihr iPhone das Haus verlassen als ohne ihre geliebte schwarze Kladde zum Preis von zwei Taschenbüchern. Denn schließlich hatten schon Hemingway, Wilde, Picasso und weitere weltberühmte Intellektuelle ihre Gedanken in ein Moleskine-Büchlein niedergeschrieben, diese hielten sie für Brüder im Geiste. Vermutlich hätten sie sich beim Gebrauch anderer Notizhefte auf der Stelle eine Sehnenscheidentzündung zugezogen, oder ihnen wäre die Hand abgefallen. Gleichzeitig wurde das Notizheft so zum Statement: Seht her, ich bin den ganzen Tag furchtbar kreativ und es sieht nur so aus, als lungerte ich antriebslos im Café herum. Ich lasse mich nur inspirieren.

Dabei war die Historie bloß ein riesiger Marketinggag, den sich andere Werber ausgedacht hatten. Moleskine-Notizbücher gab es erst seit Ende der 1990er Jahre, die weltberühmten Ikonen der kreativen Köpfe hatten bloß in ähnlich aussehende schwarze Notizbücher geschrieben. Das heißt, möglicherweise auch in ein Notizbuch von Kodi oder McPaper.

Die Wahrheit war auch, dass die Kreativen ja meist doch zu sehr damit beschäftigt waren, ihre Kinder aus dem Waldorf-Kindergarten abzuholen oder in verranzten Plattenläden nach dem total seltenen Vinyl von The Smiths zu suchen, als dass sie noch Zeit für Gedanken gehabt hätten, die in ihr Notizbuch gehörten. Am Ende landete dort dann doch die Telefonnummer von Paul, mit dem man jetzt endlich mal das Projekt angehen wollte, oder die Einkaufsliste für Emmanuels dritten Geburtstag. Das Papier war viel zu geduldig.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das Phänomen Buffet nicht noch ein wenig mehr Hass von meiner Seite verdient. Das Buffet war die schlimmste Erfindung in der Gastronomie aller Zeiten. Entstanden war es aus dem Wunsch der Restaurants, ihr Essen vom Vortag gewinnbringend loszuwerden, Personal einzusparen und gleichzeitig den Gästen das Gefühl zu vermitteln, sie würden toll essen und wahnsinnig viel Geld sparen. Wenn es um Schnäppchen ging, war der Wert des Gesparten wichtiger als der Nutzen des Schnäppchens.

Ein Buffet bestand aus verschiedenen Speisen, die schon vor längerer Zeit zubereitet worden waren und auf einem Tisch in Schüsseln und Metallbehältern aufgereiht wurden. Dann gingen die Gäste daran vorbei und löffelten sich diese Speisen auf den Teller. Die meisten entwickelten dabei einen erschreckenden und völlig sinnlosen Ehrgeiz, möglichst viel auf einen Teller zu türmen, anstatt einfach zweimal zu gehen. Denn nachnehmen durfte man so oft, wie man wollte, man zahlte immer die gleiche Pauschale. Das musste noch die alte Hungerwinter-Mentalität sein oder einfach die Angst, dass die Schüssel mit den Schnitzeln nicht mehr aufgefüllt werden würde.

Noch wichtiger als möglichst höhe Kartoffelgratin-Fleisch-Türme zu bauen, war, dass man am Ende für deutlich mehr gegessen hatte als den bezahlten Preis. Alles andere hätte aus dem Schnäppchen ein Desaster gemacht. Deshalb hieß es: Bloß noch von dem teuren Lachs nehmen und den Oliven, dann waren endlich die 17,90 Euro übertroffen.

Die schlimmsten Szenen spielten sich beim Buffet in chinesischen Folklore-Restaurants ab, also jenen Restaurants, in denen man vor lauter Holzschnitzerei, chinesischer Plastikmusik und Glutamat nicht wusste, wohin mit seiner Abneigung. Ganze Heerscharen von siebenköpfigen Familien fielen am Samstag in diese Etablissements ein, um für 13,90 Euro süß-saure Fleischbällchen, von Fett umschlossene Nudeln und gebackene Bananen zu verdrücken. Und stets bestaunten sie die Möhrenschnitzereien als Kulturgut und erzählten sich die Geschichte, dass die Zahl der Goldfische im Aquarium darüber Auskunft gab, ob der Besitzer sein Schutzgeld gezahlt hatte.

Ich hätte nun noch Lust, über die dritte krasse Fehlentwicklung zu Beginn des Jahrtausends zu sprechen. Aber die übermäßige Verwendung von Ausrufezeichen im E-Mail-Verkehr hat ein eigenes Kapitel verdient.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort