Lindbergs Weltgeschichten (27) Der Totengräber des Kapitalismus

Berlin (RPO). Lindberg lebt im Jahr 2060, ist 75 Jahre alt und berühmt und entschließt sich, seine Memoiren zu schreiben. Jeden Freitag veröffentlicht er hier ein weiteres Kapitel. Diesmal schreibt er über ein Gespräch mit Philipp Rösler.

Lindbergs Weltgeschichten (27): Der Totengräber des Kapitalismus
Foto: dapd, dapd

2060

Katharina, oh Katharina. Du bist so schön und doch so überschaubar intelligent. Eine bessere Kombination lässt sich nicht denken. Katharina ist die junge Frau, die in meiner Nachbarschaft wohnt, unbedingt Journalistin werden will und sich deshalb nach meinen Weisheiten sehnt. Die entlockt sie mir, indem sie sich in kurzen Kleidern auf meine Couch legt. So wie heute.
"Herr Lindberg, glauben Sie eigentlich, dass der Journalist stets ein neutraler Beobachter sein soll?"
"Das glaube ich allerdings, auch wenn dieses Konzept nur noch von den größten Idealisten vertreten wird."
"Waren Sie denn nie geneigt, Politik zu beeinflussen?"
"Selbstverständlich nicht… das heißt, einmal habe ich es getan."
"Worum ging es da?"
"Um die FDP."
"Um wen?"
"Ach, das habe ich ja ganz vergessen. Die FDP war eine liberale Partei, hat sich aber vor 30 Jahren aufgelöst - und daran war ich Schuld."

Sie streckte Ihre Beine aus.
"Aber selbstverständlich erzähle ich Ihnen, wie es dazu kam."

An einem kalten Herbsttag im Jahr 2018 klingelte es an meiner Tür. Ich war damals Redakteur einer großen deutschen Wochenzeitung und kümmerte mich um die politische Berichterstattung. Ich öffnete die Tür und sah in die hilflosen Augen von Philipp Rösler. Rösler war damals Vorsitzender der FDP, ein vietnamesisches Waisenkind, das bei Familie Rösler in Niedersachsen gelandet war. Ich hatte ihn ein paar Mal interviewt, das hatte er als Vertrauensverhältnis fehlinterpretiert.
"Herr Rösler, kommen Sie doch rein. Was führt Sie zu mir?"
"Herr Lindberg, ich brauche Ihren Rat."
"Ob ich Ihnen in dieser Situation noch weiterhelfen kann?"

Wir setzten uns ins Wohnzimmer.

"Die FDP ist am Ende. Dabei haben wir alles Mögliche ausprobiert. Wir haben blau-gelbe Luftballons verteilt, wir haben unser Logo grün gefärbt, wir haben die Kampagne 'Deine Freundin, die Marktwirtschaft‘ initiiert und wissen Sie noch, wie wir vor sieben Jahren Westerwelle und ein Jahr später den noch größeren Unsympathen Christian Lindner geopfert haben? Aber noch immer will uns keiner wählen. Wir stehen in den Umfragen bei 1,4 Prozent, wir werden nicht im nächsten Bundestag vertreten sein."
"Ich bin wirklich sehr betroffen, Herr Rösler."
"Machen Sie sich lustig über mich?"
"Ja, aber gemischt mit Mitleid."
"Herr Lindberg, die Sache ist ernst: Was sollen wir tun, um die FDP zu retten?"
"Lassen Sie mich offen zu Ihnen sein, Herr Rösler, ich kann Ihnen nur einen Rat geben: Lösen Sie die FDP auf."
"Ich soll was machen?"
"Ja, lösen Sie die FDP auf."
"Wie bitte sollte das die Probleme lösen?"
"Verstehen Sie denn nicht? Von der Existenz der FDP profitieren alle, nur die FDP und ihre Klientel nicht."
"Wie bitte meinen Sie das?"
"Na ja, schauen Sie doch mal: Sie liegen nur noch bei 1,4 Prozent, aber trotzdem müssen Sie noch immer für Linkspartei, SPD und Grüne als Feindbild herhalten. Was meinen Sie, wie die dadurch an Wählern gewinnen? Weil die Leute eben Angst haben vor dem Zeitalter der sozialen Kälte, das die FDP zwischen den Zeilen ankündigt."
"Das tun wir überhaupt nicht. Wir sprechen von Eigenverantwortung."
"Sie nennen es Eigenverantwortung, die SPD soziale Kälte. Jeder so, wie er es will."
"Wir glauben nur an die Fähigkeiten des Individuums, während die anderen Parteien nur an dessen Schwächen glauben. Aber wer profitiert denn bitte sonst noch von der FDP?"
"Die Kabarettisten. Sie bestreiten quasi 90 Prozent ihres Programms mit Partei-der-Besserverdienenden-Witzen. Auch die Zeitungen nutzen Ihre Partei gerne als riesige Zielscheibe, an der man unmöglich vorbeizielen kann. Und Otto-Normalverbraucher denkt: Mir geht es schlecht, aber viel schlechter noch geht es der FDP. Daran kann er sich hochziehen. Nur ihre Klientel, zu denen möglicherweise viele Vertreter der Wirtschaft gehören, die leiden unter Ihnen."
"So einen Schwachsinn habe ich ja noch nie gehört. Wir setzen uns doch für deren Ziele ein."
"Und genau das ist das Problem: Jedes Ziel, für das Ihre Partei sich einsetzt, wird automatisch zu einem falschen Ziel und wird gesellschaftlich nicht akzeptiert."
"Das ist doch Unsinn."
"Bitte leugnen Sie die Wahrheit nicht. Der Kapitalismus wäre ohne die FDP viel sympathischer. Ich möchte sogar sagen: Sie haben mehr für den schlechten Ruf des Kapitalismus getan als die KPD."

Philipp Rösler sah mich traurig an. Dann verließ er wortlos das Wohnzimmer. Drei Tage später gab er die Auflösung seiner Partei bekannt.

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