Serie "60 Jahre Bundesrepublik" Die RAF — Terror gegen den Staat

Düsseldorf (RP). Die Anschläge der linksextremen "Rote Armee Fraktion" stürzen die Bundesrepublik in ihre schwerste Krise. Die RAF ist zunächst eine Gruppe von Bürgerkindern, die zu allem entschlossen ist: Revolution zu machen, den Staat zu zerstören, das "System" zu beseitigen. Menschenleben zählen dabei nichts – weder die eigenen noch die der anderen.

2008 - das Jahr, in dem die RAF zurückkam
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Düsseldorf (RP). Die Anschläge der linksextremen "Rote Armee Fraktion" stürzen die Bundesrepublik in ihre schwerste Krise. Die RAF ist zunächst eine Gruppe von Bürgerkindern, die zu allem entschlossen ist: Revolution zu machen, den Staat zu zerstören, das "System" zu beseitigen. Menschenleben zählen dabei nichts — weder die eigenen noch die der anderen.

Knapp sechs Jahre noch. Dann wird die Frau eine Schere nehmen, ein blau kariertes Handtuch in schmale Streifen schneiden, die Streifen zu einem Strang knoten und sich am Gitter ihrer Gefängniszelle aufhängen. Es wird der Schlusspunkt sein unter dem ganz persönlichen Krieg, den sie gegen die Bundesrepublik Deutschland führt. Jetzt aber, Anfang Juni 1970 in Berlin, begründet Ulrike Meinhof — so heißt die Frau —, warum sie diesen Krieg führt. Sie gibt einer französischen Journalistin ein Interview, bei Tee und frischen Erdbeeren, ihre Aussagen werden aufgezeichnet. Es ist das erste Dokument des deutschen Terrors, der Rote Armee Fraktion, kurz: RAF.

Revolution will die Frau machen. Den Kapitalismus will sie beseitigen. Mit "kinderreichen Familien" wolle man dazu den Schulterschluss suchen, sagt Meinhof, mit Arbeitern und "proletarischen Jugendlichen". Von den Intellektuellen hält man nichts mehr, seit die Revolte von 68 sich totgelaufen hat. Und dann das: "Wir sagen, natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in der Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden."

Natürlich? Natürlich. Die 35-jährige Frau meint es ernst. Vier Wochen zuvor haben fünf junge Leute, unter ihnen Meinhof, in Berlin einen ihrer Kumpane aus der Haft befreit — und haben dabei einen Mann angeschossen. Jener 14. Mai 1970 gilt seither als Gründungstag der RAF. In den nächsten knapp acht Jahren hat die Bundesrepublik ihre tiefste Krise zu bestehen. Sie wird in diesem Kampf siegen. Vorher aber gibt es Dutzende Tote, etwa so viele unschuldige Opfer wie Terroristen.

Ulrike Meinhof ist typisch für die erste Generation der RAF. Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Holger Meins, Jan-Carl Raspe: Bürgerkinder sind das, kurz vor oder im Krieg geboren, in der Wirtschaftswunderzeit großgeworden, seit der späten Adenauer-Ära politisch engagiert, in den 68er Unruhen politisch radikalisiert — und irre geworden an einer Demokratie, die für sie nur eine weitere deutsche Diktatur ist, Herrschaft alter Nazis, Polizeistaat, den nur Profitinteresse regiert. Dass der Staat, den sie zerstören wollen, ihnen eigentlich alle Freiheiten bietet, dafür sind sie blind. Ihr Kampf ist ein Ritt gegen Windmühlen, mörderische Donquichotterie.

Ausgebrütet wird die "Stadt-Guerilla" (so nennt sie sich selbst) in der hitzigen Enge der Frontstadt West-Berlin. Der Staub, den die Demonstranten in den Universitäten und auf den Straßen aufwirbeln, hat sich noch nicht gelegt, da wird klar, dass in der Staubwolke auch solche marschieren, die zu Gewalt entschlossen sind, und zwar gegen Sachen und gegen Personen — auch diese sophistische Unterscheidung ist ein Erbe von Achtundsechzig.

Es beginnt mit Gewalt gegen Sachen. Im April 1968, auf dem Höhepunkt der Unruhen, brennen zwei Kaufhäuser in Frankfurt. 673 204 Mark Sachschaden berechnen die Versicherungen. Gleichzeitig brennen bei Studenten-Demonstrationen allerdings auch die Lieferwagen von Springer in Berlin — noch verschwindet der Terror fast im großen Aufbegehren. Baader und Ensslin werden angeklagt, tauchen aber vor dem Urteil unter. Zwei Jahre lang ist Ruhe, bis Baader im April 1970 festgenommen wird. Zu seiner Befreiung fällt der erste Schuss.

Monatelang lassen sich die Terroristen danach in Jordanien von den Palästinensern, den Todfeinden Israels, als Guerillas schulen. Ihr neues Wissen setzen sie in Deutschland ein, um Banken zu überfallen, Dokumente und Fahrzeuge zu stehlen. Die ersten Toten gibt es 1971 — zwei Terroristen, zwei Polizisten. Die RAF heult auf: Die tödlichen Schüsse auf die Gesinnungsgenossen seien staatlicher Mord. Über die Polizisten, die "Schweine", kein Wort.

Markig ist die Rede der RAF, ihre Ziele sind diffus. Eindeutig immerhin: Es geht gegen das "System", und die Eskalation ist geplant. "Macht das klar, dass die Revolution kein Osterspaziergang wird", heißt es 1971: "Um die Konflikte auf die Spitze treiben zu können, bauen wir die Rote Armee auf." Die zündet 1972 Bomben in Serie, gegen die US-Truppen in Deutschland, aber auch gegen Arbeiter bei Springer in Hamburg — der endgültige Sündenfall der angeblichen proletarischen Elite, die stets vorgegeben hatte, sich mit den unterdrückten Massen solidarisieren zu wollen.

Die allgemeine Erleichterung ist daher groß, als im Juni 1972 die gesamte Führungsspitze der RAF verhaftet wird — Baader, Raspe, Meins, Meinhof. Der Propagandakrieg, der den Terror orchestriert, setzt jedoch jetzt erst richtig ein. Die Inhaftierten wähnen sich gefoltert, adeln sich zu Kriegsgefangenen, errichten vor Gericht verstiegene Gedankengebäude von einer angeblich faschistischen Republik. Ihre Anwälte, darunter der spätere Innenminister Otto Schily, helfen nach Kräften. Ende 1974 stirbt Holger Meins im Hungerstreik, trotz Zwangsernährung. Meins, 1,86 Meter groß, wiegt am Ende 39 Kilogramm. Bis heute gilt er den Linksextremen neben Meinhof als der ehrwürdigste in der Reihe der RAF-Märtyrer.

Im Februar 1975 ist der Staat plötzlich gezwungen, die RAF nicht nur zu verfolgen, sondern sich ganz konkret ihr gegenüber zu verhalten: Die Terroristen haben den Berliner CDU-Chef Peter Lorenz entführt. Sie fordern die Freilassung von Genossen, und sie haben Erfolg. Fünf Terroristen werden in den Jemen ausgeflogen, im Tausch gegen Lorenz. Es ist das einzige Mal, dass der Staat sich erpressen lässt. Helmut Schmidt ist seit knapp einem Jahr Bundeskanzler. Später wird er die Entscheidung als schwersten Fehler seiner Laufbahn bezeichnen.

Seitdem steht fest: Es wird nicht nachgegeben. Zum ersten Mal durchexerziert wird die neue Strategie zwei Monate danach, als die RAF die Botschaft der Bundesrepublik in Stockholm besetzt und zwei Diplomaten umbringt. Das Gebäude wird gestürmt, zwei Terroristen sterben. In anderen Fällen tötet die RAF, ohne umständlich Geiseln zu nehmen. Im April 1977 stirbt Generalbundesanwalt Siegfried Buback, im Juli der Vorstandschef der Dresdner Bank, Jürgen Ponto.

Im September entführt die RAF den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, ihr bislang prominentestes Opfer. Wochenlang sucht die Polizei vergeblich. Da kapern Palästinenser am 13. Oktober über dem Mittelmeer die Lufthansa-Maschine "Landshut" und zwingen sie zu einer Odyssee bis nach Somalia. 88 Menschen sind jetzt in der Gewalt der Terroristen: 87 an Bord plus Schleyer. Es ist die äußerste Belastung, der die RAF die Republik auszusetzen vermag — eine Belastung, die den Rechtsstaat nicht existenziell bedroht, unter der er sich aber fast selbst vergisst. CSU-Chef Franz Josef Strauß soll im Krisenstab die präventive Todesstrafe für die einsitzenden RAF-Anführer gefordert haben mit den Worten: "Wir haben doch auch Geiseln." So weit kommt es nicht. Die "Landshut" wird in Mogadischu gestürmt, alle Geiseln befreit, Schleyer von der RAF erschossen. Der Staat hat Schleyers Leben geopfert und seine Räson bewahrt.

Damit ist der Höhepunkt des Terrors überschritten. Die RAF ist unter dem Druck immer neuer Fahndungswellen jahrelang nicht handlungsfähig, die Anführer setzen sich in die DDR ab. Erst zu Beginn der 80er Jahre formiert sich eine dritte Generation der Terroristen. Sie versuchen nicht mehr, ihre Genossen freizupressen, sondern morden direkt — US-Soldaten, Diplomaten, im November 1989 Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen und im April 1991 in Düsseldorf den Treuhand-Präsidenten Detlev Rohwedder.

Sieben Jahre später erhält die Nachrichtenagentur Reuters ein langatmiges Schreiben. Es beginnt: "Vor fast 28 Jahren, am 14. Mai 1970, entstand in einer Befreiungsaktion die RAF. Heute beenden wir dieses Projekt. Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte." Selbst das Ende ist Lüge — der deutsche Terror spiegelt Handlungsfähigkeit bis zum Schluss vor. Dabei ist sein Kampf schon 1977 gescheitert, die zersprengten Reste vermögen den Staat nicht mehr herauszufordern.

Und die Protagonisten? Baader und Raspe haben sich in der Nacht der "Landshut"-Befreiung in ihren Gefängniszellen erschossen, Ensslin sich erhängt. Ulrike Meinhof war da schon mehr als ein Jahr tot. Menschenleben — das eigene und das der anderen — waren der RAF immer nur Mittel zum Zweck. Im Krieg bedeutet ein Leben nicht viel, war das Kalkül. Natürlich kann geschossen werden.

Wie mit dem Terror heute umzugehen ist, quält die deutsche Gesellschaft — Siegfried Bubacks Sohn Michael beklagt den "zweiten Tod" seines Vaters, weil den Tätern mehr Aufmerksamkeit geschenkt werde als den Opfern. Vieles daran ist richtig. Freilich gilt auch: Dass die Republik heute über Gnade diskutiert für die, die sie zerstören wollten, zeigt, wie unrecht die Terroristen mit ihrem Gerede vom Polizeistaat hatten. Es zeigt, was für ein Glück diese Republik ist.

(RP)
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