Bedrohtes Alltags-Wort Ey Mann, wo is' mein 'ey!'?

Düsseldorf · Fast jeder sagt es täglich dutzendfach, ganz unbewusst: "ey". In der Wikipedia steht es nicht, im Duden und in Lexika aus dem 18. Jahrhundert schon – und es ist akut vom Aussterben bedroht. Auf den Spuren eines ganz besonderen Wörtchens.

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Foto: Langenscheidt

Fast jeder sagt es täglich dutzendfach, ganz unbewusst: "ey". In der Wikipedia steht es nicht, im Duden und in Lexika aus dem 18. Jahrhundert schon — und es ist akut vom Aussterben bedroht. Auf den Spuren eines ganz besonderen Wörtchens.

Der Chef verlangt schon wieder Überstunden? "Boah nee, ey!" Auf der Autobahn wird man so hart geschnitten, dass man voll in die Eisen gehen muss: "Eeey, samma, geht's noch?" Der Handyakku ist leer? "Verdammt, ey!" Der beste Freund hat Kummer? "Eyyy, Kopf hoch..." Wenn Ihnen diese Reaktionen unrealistisch vorkommen, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder Sie unterschätzen, wie oft Sie diesen kleinen Ausdruck unbewusst und im Affekt verwenden. Oder aber Sie sind deutlich unter 30 Jahre alt. Die meisten Älteren allerdings können kaum davon lassen.

Eine Reise zu den Wurzeln des "Ey" gestaltet sich erstaunlich schwierig. Ein eigener Wikipedia-Eintrag beispielsweise bleibt ihm verwehrt. In der Online-Enzyklopädie erfährt man nur, dass "Ey Iran" keine Respektlosigkeit gegenüber dem persischen Staat ist, sondern der Titel einer Hymne zu dessen Ehren. Das Kürzel EY wiederum erfreut sich der Wikipedia zufolge offensichtlich großer Beliebtheit als Kennzeichen für alles mögliche, darunter Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Springreitturnierserien, eine arabische Fluggesellschaft, tadschikische Flugzeuge und litauische Flugplätze. Außerdem ziert es die Nummernschilder von Autos aus britischen, griechischen und norwegischen Regionen. So weit, so wenig hilfreich?

Jein. Das beim Anblick dieses Sammelsuriums noch verstärkte Bauchgefühl, dass "ey" alles und nichts zugleich heißt, trifft die Sache ziemlich genau auf den Punkt.

Der Sprachforscher Matthias Meiler etwa schreibt, das "Ey" zähle wie auch "aha" oder "igitt" zu den Interjektionen, also Ausrufen, denen die Funktion zukomme, eine unmittelbare und sehr bestimmte "Beziehung zwischen Sprecher und Hörer herzustellen". Das "ey" ist dabei die Allzweckwaffe unter den Interjektionen; je nach Tonfall lässt sich damit jede denkbare Emotion verstärken. Meiler zufolge haben schon die alten Römer diese "Einwürfe" zur eigenen Wortart erhoben. Auf die mit ihrem Gebrauch stets verbundene Emotionalität weist der schöne Begriff "Hertzwörtgen" hin, der sich in einem Buch des Sprachforschers Johann Daniel Longolius von 1715 findet.

Von "Worten des emotionalen Ausdrucks" oder "Nachdruck-Verleihern" spricht deshalb Jannis Androutsopoulos, Linguist an der Universität Hamburg. "Ein 'ey' kann Überraschung oder Betroffenheit ausdrücken, Abweisung, Ekel oder Trost — alles steht und fällt mit dem Kontext."

Dem Duden ist das "ey" einen eigenen Eintrag wert — einerseits denkwürdig minimalistisch, andererseits mit Ausrufezeichen als unbedingtem Bestandteil:

ey! [eɪ] (ugs.)

Und sogar diese paar Zeichen sind umstritten. "Die Angabe der Aussprache stimmt meines Erachtens nicht", sagt der Ruhrgebiets-Sprachforscher Heinz Menge, "und auch die Angabe '(engl.)‘ kommt mir zweifelhaft vor".

Ein Paradebeispiel für einen Ausdruck der Umgangssprache ist das "ey" aber selbstverständlich. Christian Paga, der dieses "Kiezdeutsch" an der Universität Duisburg-Essen erforscht, stößt in informellen Gesprächen "schon seit geraumer Zeit" immer wieder auf das "ey".

Popkulturellen Ruhm erfuhr das Wörtchen mit "Werner Beinhart!" (1990) sowie den fast zeitgleich erscheinenden Proll-Komödien "Manta, Manta!" und "Manta - der Film" (1991). Comedians wie Tom Gerhardt ("Voll normaal", 1994) und Matze Knop ("Super Richie", 1997) legten nach, ebenso Atze Schröder sowie Erkan & Stefan 1999. In Sprachlexika lässt sich das 'ey' seit den späten Achtziger Jahren nachweisen, 'boah' sogar seit den frühen Achtzigern. Genutzt worden seien die Ausdrücke nicht nur in Zechen, Kleingärten und Trinkhallen im Ruhrpott, wie es das Klischee wolle: "Boah" und "ey" seien "vom Saarland bis nach Westfalen" verbreitet gewesen, vermutet Peter Honnen vom Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte des Landschaftsverbands Rheinland (LVR), und zwar "praktisch schon immer".

Tatsächlich findet sich schon 1793 im "Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart" ein ausführlicher Eintrag zum "ey": Der "natürliche Ausdruck verschiedener größten Theils sanften und gelinden Gemüthsbewegungen" drücke "selbige mit allen ihren Schattirungen und Graden" aus. Dutzende Beispiele finden sich dort, von "Ey, das ist vortrefflich!" über "Ey, welche weise und verständige Leute sind das!" bis "Ey, das war nicht fein von dir" und "Ey, du ungeschickter Mensch!" Kleiner Schönheitsfehler: Die damalige Aussprache des Ausdrucks, der "bey stärkern Empfindungen leicht in ach und o übergehet", ähnelt weniger unserem "ey" als vielmehr dem "-ei" wie in "Schweinerei".

Auch eine geographische oder soziologische Eingrenzung sei "praktisch unmöglich", sind sich die Experten einig. Die verbreiteten Zuschreibungen als typisch für Ruhrgebiets-, Jugend- oder auch "prollige" Sprache seien jedenfalls falsch. Zumindest das "boah ey" ohne weiteren Inhalt sei aber schon zu seiner Hochzeit stigmatisiert, nämlich als prollig verschrieen gewesen. Heute halten es Carolin Kebekus oder Martin Klempnow ("Dennis aus Hürth") hoch. Und doch: Das "Ey" stirbt aus.

"Es ist aus dem Gebrauch gekommen", meldet Jannis Androutsopoulos. "Man hört es nicht mehr auf der Straße und liest es auch nicht in WhatsApp-Chats. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist das 'ey' einfach out." Umso hartnäckiger hielten allerdings diejenigen daran fest, die es als Jugendliche stark genutzt hatten — eben die heute etwa 30- bis 50-Jährigen. Dass die so am "ey" hängen, ob mit oder ohne "boah", könnte mit der sprachlichen Einzigartigkeit dieser Ausdrücke zu tun haben, vermutet der Sprachforscher Heinz Menge: "Sowohl das 'O' in 'boah' als auch das 'ÄI' in 'ey' sind Laute, die es in der deutschen Standardaussprache nicht gibt. Vielleicht macht auch das den Reiz aus."

Vom "ey" hätten sich viele jüngere Leute zunächst distanziert, indem sie es ironisch überzogen verwendeten, sagt Androutsopoulos: "Das ist ein schlechtes Omen." Auf einer Satire-Website heißt es etwa, der Ausdruck müsse sowohl am Anfang als auch am Ende jedes Satzes stehen, wobei auch vier, sechs oder acht "Ey" pro Satz gern gehört seien. Auch komme der Ausdruck "nur in Verbindung mit einem Ausrufezeichen vor" — was der Duden bestätigt, dessen Definition ja tatsächlich für "ey!" gilt. Der Überzeugung der Satiriker, dass dieses "!" in der gesprochenen Sprache durch Nasebohren, auf den Boden spucken oder dem Griff ans männliche Gemächt ersetzt werde, schließt sich die "Duden"-Reaktion verständlicherweise nicht an.

Was sagt denn nun die Jugend von heute statt "ey" am Satzende, um etwas besonders zu betonen? Kommt drauf an. Zum Beispiel "Mann" oder "Junge", "Alter" oder "Digger", "Bruder" oder auch das aus dem Türkischen stammende "lan". "Am Satzende funktionieren diese Wörter nicht als Anreden, sondern eher als Verstärkungspartikeln", sagt Androutsopoulos. Deshalb könne man sie problemlos auch im Gespräch mit Frauen oder Mädchen verwenden. "Menschen sind keine Automaten, aber sie machen Moden mit", erklärt er; das gelte auch für die Interjektionen zum Satzende. Auf die eigene Wortwahl habe man durchaus Einfluss, betont der Forscher. "Man kann ja schon reflektieren und fragen: 'Will ich diesen oder jenen Ausdruck nutzen, identifiziere ich mich mit den Sprechern?'" Gerade Wörter ohne eigene konkrete Bedeutung verbreiteten sich aber sehr schnell, sowohl geographisch als auch zwischen Milieus — und sich in Fleisch und Blut übergegangene Worte wieder abzugewöhnen, sei nicht ganz leicht.

Dass mit seinen Sprechern auch das "ey" ausstirbt, brauchen die Freunde des gemeinen "ey" dennoch nicht zu fürchten — zur Hälfte lebt es nämlich weiter. Sprachforscher unterscheiden nämlich — im Gegensatz etwa zum Duden — das "ey" am Satzanfang von jenem am Satzende. "Obsolet geworden ist nur das 'ey', 'ejj' oder 'ehhh' am Satzende", sagt Androutsopoulos. "Das '(h)ey' zum Satzanfang, das auch leicht anders ausgesprochen wird, nämlich als Diphthong mit zwei Vokalen innerhalb der einen Silbe, wird nach wie vor verwendet." Wovon man sich in jedem Fußballstadion überzeugen kann, wo dem Schiedsrichter nach umstrittenen Entscheidungen reflexartig und wie aus einer Kehle "Eeeeeeeey...!" entgegenschallt.

Dass zumindest die eine Hälfte des "Ey" auf der Roten Liste steht, ist das eine Ergebnis dieser Recherche. Das andere ist: Bei "Scrabble" ist es laut scrabblemania.de zulässig. Zwei mögliche Reaktionen auf diese Information allerdings, sowohl "Boah!" als auch "Argh!", sind streng verboten. Das "Ey" hat also ganz offensichtlich treue Fans. Es ist eben nicht nur irgendeine Interjektion, kein Zwischenruf wie jeder andere — sondern ein echtes Herzwörtchen.

(tojo)
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