Serie 70 Jahre Nach Kriegsende Erinnerungen an einschneidenden Tag

Solingen · In Solingen endete der Zweite Weltkrieg am 17. April 1945 mit dem Einmarsch der Amerikaner. Änne Wagner (1904 - 1997) erlebte in Widdert das Eintreffen der G.I.'s der 94. Infanteriedivision. Ihre Erlebnisse hat sie als Biografie festgehalten.

 In ihrem Elternhaus an der Börsenstraße erlebte Änne Wagner das Ende des Zweiten Weltkriegs.

In ihrem Elternhaus an der Börsenstraße erlebte Änne Wagner das Ende des Zweiten Weltkriegs.

Foto: Stadtarchiv

Gegen fünf Uhr am Morgen klopft es am Schlafzimmerfenster. Es ist der 16. April 1945. Die Nacht haben Änne Wagner und ihre Schwägerin Ida angekleidet im verschlossenen Schlafzimmer im Haus in Rölscheid nahe Widdert verbracht. Zwei deutsche Soldaten haben sich einquartiert, und sie sind betrunken und bewaffnet. Zum Glück ist es nur der Nachbar, der klopft. Sie sollten hinaufkommen, es gebe etwas Interessantes zu sehen. Durchs Fernglas beobachten sie, wie die Flak in Witzhelden-Orth einen Berg Papiere verbrennt und ihr Geschütz sprengt.

Kurz darauf fahren Panzer Richtung Wupperhof. Wieder sind Explosionen zu hören. Die Wupperbrücken seien gesprengt worden, weiß der Nachbar. Die Amerikaner seien in Witzhelden eingerückt. "In Witzhelden ?" "Wir hatten doch keine Ahnung, dass wir schon seit längerer Zeit eingekesselt waren", schreibt Änne Wagner in ihren Lebenserinnerungen. Um sich friedlich zu zeigen schlägt der Nachbar vor: "Wir hängen Bettlaken an Bohnenstangen in die Fenster".

Der Nachbar berichtet, die Fallschirmjägereinheit, die in der Nähe untergebracht ist, schlafe ihren Rausch aus und wäre leicht zu entwaffnen. Das bringt sie auf eine Idee: Nicht ohne Angst nehmen sie die Waffen der beiden Soldaten im Haus an sich und verstecken sie im Kaninchenstall.

Gegen sieben Uhr läuft Änne Wagner hinauf nach Widdert, um nach den Eltern zu sehen, die in der Börsenstraße 123 wohnen. An einem Haus hängt ein Zettel von der Antifa. Er fordert die Bürger auf, Sprengungen und Vernichtungen zu verhindern. Als Änne weitergehen will, kommt ein als Nationalsozialist Bekannter hinaus und kratzt den Zettel ab. Sie denkt: "Dem wünsch ich, dass er vor Durst noch umkommt, falls die deutschen Soldaten noch die Talsperre sprengen sollten."

Gegen Mittag wachen die beiden Soldaten im Haus auf. Der Ältere geht in die Diele. "Wo ist denn mein Karabiner ?" Ida entgegnet: "Den müssen Sie da suchen, wo Sie ihn heute Nacht hingelegt haben." Er öffnet seinen Rucksack und stellt fest, dass auch seine Pistole verschwunden ist. Er stürzt zur Tür hinaus und verschwindet mit seinem Motorrad.

Der Jüngere, 18 Jahre alt, fragt: "Kann ich vorläufig hier bleiben ?" An ein Herauskommen aus dem Kessel sei nicht zu denken. "Könnte ich nur meiner Mutter eine Nachricht geben, sie wird sich sehr um mich sorgen." Änne sagt: "Ich habe eine letzte Nachricht von meinem Mann Karl vom 21. Januar aus Lida in Nordpolen. Als der Brief mich erreichte, standen die Russen schon vor Stettin."

Mittags kommt eine Verwandte aus der Nachbarschaft zu Besuch. Sie ist hochschwanger und bittet Änne Wagner, sie zum Arzt zu begleiten. Dessen provisorische Praxis befindet sich in der Widderter Schule. "Als wir kurz vor der Börsenstraße waren, kam mit lautem Getöse ein riesiger Panzer vom Hintenmeiswinkler Weg angerollt. In der Luke stand ein Farbiger." Die Amerikaner sind da. Erschrocken bleiben sie stehen. "Auf zwei Frauen würden sie doch sicher nicht schießen."

Die Frauen kehren lieber um. Auf der Rölscheider Straße begegnen ihnen deutsche Fallschirmjäger. Als sie die weißen Fahnen am Haus sehen, drohen sie: "Nehmt nur die Fetzen aus den Fenstern, sonst knallt's." Als alles ruhig bleibt, sieht Änne Wagner nochmal nach den Eltern auf der Börsenstraße. Dort ist reger Betrieb. Vor der Gaststätte Meis stehen ein Panzer und zwei Lastwagen mit Amerikanern. Viele deutsche Fallschirmjäger sind dort, um sich in Gefangenschaft zu begeben. Es heißt, die Amerikaner suchten Lkw-Fahrer. Zurück in Rölscheid erzählt Änne Wagner dem jungen Soldaten davon. "Da melde ich mich. Ich bin Fahrer, vielleicht..." Mehr sagt er nicht und verabschiedet sich überstürzt.

Endlich sind Änne und Ida wieder allein. Gedankenverloren sagt Änne Wagner zu ihrer Schwägerin: "Wo mag mein Karl nur sein ? Sicherlich hat er heute genauso oft an mich gedacht, wie ich an ihn." "Warum gerade heute?", fragt Ida. "Weil ich doch heute Geburtstag habe, wir haben den 16. April."

ZUSAMMENGEFASST VON BENJAMIN DRESEN

(bjd)
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