Mönchengladbach Das Leben nach der Explosion

Mönchengladbach · Manche wollen weg, andere sprechen sich Mut zu und sammeln Spenden: Seit zwei Tagen kommen die Anwohner zum Siepensteg zurück. Unter ihnen Jochen Wyrobisch, der Inhaber der Pizzeria "Bella Italia". Eine Nachbarschaft versucht, mit dem Unglück fertig zu werden.

 Jochen Wyrobisch vor seiner Pizzeria, die seit Mittwoch mit Brettern vernagelt ist. Im Moment ist der 57-Jährige noch ratlos, wie es weitergehen soll.

Jochen Wyrobisch vor seiner Pizzeria, die seit Mittwoch mit Brettern vernagelt ist. Im Moment ist der 57-Jährige noch ratlos, wie es weitergehen soll.

Foto: RP, Isabella Raupold

Am Tag, als sie seine Pizzeria von außen mit Brettern vernageln, steht Jochen Wyrobisch noch einmal vor seiner zusammengekrachten Existenz. Mit ruhigem Blick fixiert der 57-Jährige das Haus am Siepensteg, in dem am Sonntag die Explosion passierte. Das Haus, deren Trümmer einen Menschen erschlugen, und in dem er und viele andere aus dem Viertel ihren Lebensmittelpunkt hatten.

Der Sturm zerrt an Jochen Wyrobischs Jacke, fliegt durch die Haare. Reste der Absperrbänder von der Polizei flattern im Wind. Aber was ihn hin und her reißt, sind seine Gedanken. "Wäre das zwei Stunden später passiert, wären meine Frau und ich jetzt tot", sagt er.

Durch die Explosion hat der siebenfache Vater und siebenfache Großvater seine Existenz verloren. Schulden wegen des Pizzeria-Kaufs vor neun Jahren, jetzt ist er arbeitslos, das Geschäft kaputt. Die Pizzeria war für Jochen Wyrobisch die Lebensgrundlage, für die Großfamilie und Teile der Nachbarschaft war es zugleich zentraler Treffpunkt.

Der 45-Jährige, den die Trümmer erschlugen, war einer seiner Stammgäste. "Einen Salat hat er immer bestellt", sagt Wyrobisch. Solche Gedanken spulen sich immer wieder in seinem Kopf ab, wenn er in diesen Tagen zum Siepensteg kommt. Aber allein, das bleibt er dort nicht lange. Die Explosion und deren Folgen haben den Alltag am Siepensteg im Griff.

Ein älterer Mann im Steppmantel kommt vorbei, ein Nachbar. "Jochen, wie geht es dir?", fragt er und erzählt: Er schläft im Mantel, weil die Heizung noch nicht funktioniere, weil es durch die geborstenen und flüchtig vernagelten Fenster "zieht wie Hechtsuppe". Einem Nachbarn, sagt er, hätte es eine Friteuse ins Kinderzimmer gejagt. "Wir halten es in der Wohnung nicht aus. Ich bin bald weg hier." Bald kommen noch mehr und wollen einfach reden. Aber unter sich.

Eine Nachbarschaft versucht, mit der Explosion vom Sonntag fertig zu werden. Einige wollen wegziehen. Andere sprechen sich Mut zu und versuchen, einander zu helfen. "Die Leute sind so geschockt, manche haben Angst, hier weiter zu leben", sagt Wyrobisch, dessen Schwiegereltern im Haus nebenan wohnen. Seit zwei Tagen dürfen die Anwohner der umliegenden Häuser wieder in die Wohnungen, übernachten aber noch bei einem Verwandten.

Mutter und Vater des 22-Jährigen, der noch immer in der Uni-Klinik Duisburg mit Brandverletzungen im künstlichen Koma liegt, treffen ein. Jeden Tag führen sie in die Klinik, sagen sie. Sie würden ihm gerne ein paar Sachen bringen, nur dürfen sie noch nicht ins Unglückshaus zurück, um ein paar Kleider oder die Krankenkarte zu holen.

Gabi Wagner weiß Hilfe. Sie koordiniert die Spendenaktion. In der Grundschule am Buscherplatz kommen immer mehr Sachspenden an. Hauptsächlich Kleidung und Gläser, gesucht werden aber noch etwa 30 Oberbetten. Ein bisschen neue Kleidung bekommen die Eltern des Verletzten bei ihr. Und viel Zuspruch. "Die Spendenbereitschaft ist überwältigend", sagt Gabi Wagner.

Die Spenden geben den Betroffenen das Nötigste für die ersten Tage nach dem Unglück. Der Verein Crash, gegründet von Hinterbliebenen der Concorde-Opfer im Jahr 2000, hilft jeder betroffenen Familie sofort mit einem vierstelligen Bargeldbetrag. Auch Jochen Wyrobisch und seine Familie bekamen Geld von dem gemeinnützigen Verein. Und im Polizeipräsidium, dem größten Stammkunden der Steh-Pizzeria, überlegte die Kripo, wie sie für Jochen Wyrobisch und seine Frau ein neues Lokal finden könnten. "Es baut schon ein wenig auf, wenn man das hört", sagt Wyrobisch.

Geld und Sachspenden helfen ihm und seinen Verwandten und Bekannten am Siepensteg über die ersten Tage hinweg. Nicht aber, sie zu vergessen. In einfachen Alltagssituationen kommen die Erinnerungen immer wieder hoch. "Gestern wollte ich einkaufen und stand an der Gemüsetheke", erzählt Jochen Wyrobisch. "Als erstes dachte ich: Was brauchst du heute für die Pizzeria?"

Spendenkonto 12807 bei der Stadtsparkasse MG (BLZ: 310 500 00)

(RP)
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