Katastrophe auf der Loveparade "Es war die Hölle auf Erden"

Duisburg · Betroffene schildern, wie sie an der Unglücksstelle in einem zwei Meter hohen Berg aus Menschen verkeilt waren. Auch den Rettern verlangte die Situation Übermenschliches ab.

Loveparade 2010 in Duisburg: Die Katastrophe
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Loveparade 2010: Die Katastrophe

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Foto: APN

Ein Berg aus Menschen — das ist eines der vielen furchtbaren Bilder, die von der Duisburger Loveparade bleiben. Raver, die in das verhängnisvolle Gedränge an der Rampe geraten sind, schildern im Zwischenbericht der Staatsanwaltschaft ihre Eindrücke.

Es sind Seiten, die nur mühsam zu lesen sind, wird der Schrecken hier doch genauso greifbar wie die Hilflosigkeit und Todesangst derjenigen, die an der Rampe feststeckten. Klar ist: Wer in dem Pulk eingequetscht war, hatte die Kontrolle über seinen Körper und sein Handeln verloren, wurde von der Masse mitgezogen, im schlimmsten Fall zu Boden gedrückt. Diejenigen, die ganz unten lagen, mussten das Gewicht mehrerer Menschen über sich aushalten — für 21 von ihnen kam am Ende jede Hilfe zu spät.

"Die Panik entstand ganz langsam und schleichend, weil es immer enger wurde und sich die Leute ganz langsam der Enge und der daraus möglichen Gefahren/Folgen bewusstwurden", beschreibt ein Zeuge die Entwicklung an der Rampe. Viele wussten nicht, wo es überhaupt zum Party-Gelände ging, blickten vor sich nur auf Köpfe. "Wenn man gesehen hätte, dass da der Zugang ist, wären die Leute auch weiter gelaufen", stellt ein Teilnehmer fest. "Es war nirgends eine Beschilderung vorhanden. Wir wussten nicht, wohin wir sollten." Fatal war offensichtlich die Signalwirkung, die von den Ravern ausging, die sich über eine schmale Treppe zum oberhalb der Rampe gelegenen Stellwerk retteten. Danach nahm der Druck unterhalb der Treppe zu.

Wie ein einzelner Organismus bewegte sich die Masse in Richtung des vermeintlichen Fluchtwegs. Ein Zeuge: "Es war sehr eng, ich hatte das Gefühl, zu ersticken. Ich glaube, dass die Situation dort 20 bis 25 Minuten gedauert hat. Ich dachte, meine Knochen werden gebrochen." Die Teilnehmer schildern, wie Druckwellen durch die Menge liefen und die Raver krampfhaft versuchten, nicht umzufallen. Wer zu Boden gerissen wurde, hatte keine Chance mehr, wieder auf die Füße zu kommen.

Aus der Zeugenaussage spricht Hilflosigkeit: "Die Mädchen vor mir sind dann auf einmal so schnell nach unten weggesackt, dass man da gar nicht helfen konnte. Ich habe nur gesehen, die Mädchen gingen runter, und zack war die Lücke wieder zu. Die Menschen wurden dann sofort über diesen Mädchen weitergedrückt und haben dann auch auf diesen Menschen gestanden." Besonders gefährlich wurde es, als ganze Gruppen einfach umfielen. "Das passierte wie in Zeitlupe. Die Leute gerieten zunächst in Schräglage und kamen dann übereinander zum Liegen. Letztendlich ist es mir genauso ergangen. Ich schätze mal, dass über mir direkt noch drei bis vier andere Leute drüberlagen", gibt ein Beteiligter zu Protokoll. Immer mehr Menschen stürzten — unfähig, sich dagegen zu stemmen.

Dieser laut Bericht der Staatsanwaltschaft sogenannte "Menschenhaufen" oder "Menschenberg" wuchs in kürzester Zeit weiter an. "Ich schätze, auf fünfzehn Meter Länge war der Haufen zwei Meter hoch. Ich konnte bei einer Körpergröße von 189 Zentimetern nicht über den Haufen gucken", sagt ein Polizeibeamter bei seiner Vernehmung. Für die Eingeklemmten in diesem "Menschenberg" ging es ums Überleben. Der enorme Druck machte das Atmen fast unmöglich, die Muskulatur erschlaffte. Viele Eingekeilte spürten ihre Gliedmaßen nicht mehr, geschweige denn, dass sie sich bewegen konnten.

Ein Loveparade-Besucher, der im Pulk festsaß: "Ich konnte nur noch die Finger der rechten Hand bewegen. Alles andere war eingeklemmt. Auf mir lag einer drauf. Gesehen habe ich nichts mehr. Ich habe mir nur gedacht, dass das nicht wahr sein kann, dass es sich immer schlimmer entwickelt. (...) Das ist der Moment, wo ich dachte, es geht zu Ende." Wer noch Kraft hatte, schrie um Hilfe. Den Rettern streckten sich aus dem Haufen die Arme und Hände der Eingeschlossenen entgegen. Doch auch die Helfer stießen bei ihren Rettungsversuchen an ihre Grenzen. "Wir konnten keinen rausziehen, denn die oben waren zu schwer", schildert der Polizeibeamte die dramatische Situation. "Die oberen waren so weit weg, dass ich die nicht packen konnte. Alles war so heiß und verschwitzt, man rutschte dauernd ab." Der 51-jährige Notarzt Frank Marx beschreibt die Situation an der Rampe als "Vorhof zur Hölle".

Für einen kurzen Augenblick war er starr vor Entsetzen, als er auf die vielen leblosen jungen Körper zu seinen Füßen blickte. Er konnte sich nicht erklären, warum es so viele Tote gab. Der Notarzt der Duisburger Feuerwehr war einer der ersten Retter, die am Unglücksort eintrafen, wurde um 16.21 Uhr auf seinem Handy angerufen. Es habe einen Unglücksfall im Tunnel gegeben, meldete die Einsatzleitstelle. Er solle nachsehen, was los ist.

Der 51-Jährige stand an der Kreuzung Düsseldorfer-/Karl-Lehr-Straße. Er ahnte zu diesem Zeitpunkt nicht, dass nur wenige Meter von ihm entfernt hunderte junge Menschen um ihr Leben kämpften. Dann piepte auch sein Alarmgerät: Eine Massenpanik, lautete die Nachricht. Der direkte Weg zu Fuß in die dunkle Röhre war ihm versperrt. Zu viele Menschen. Laut Zwischenbericht der Staatsanwaltschaft war es versäumt worden, im Tunnel einen sogenannten "Löwengang" zu errichten — eine aus Absperrgittern errichtete Gasse, durch die Rettungskräfte im Notfall schnell an den Einsatzort gelangen. Marx fuhr mit dem Auto auf die A59, wo später die Rettungshubschrauber landeten und erreichte so die Unglücksstelle.

Was er dort sah, schockierte ihn zutiefst. "Die Leichen waren so schmutzig, als seien sie gerade aus einem Bergwerk gekommen", schildert Marx. Alles war voller Blut. Verzweifelt kämpften junge Menschen vor seinen Augen um das Leben ihrer Freunde, Brüder und Schwestern. Sie drückten auf die Brustkörbe, machten Mund-zu-Mund-Beatmung und versuchten, Blutungen zu stillen.

"Es war der gute Geist, der im Moment des größten Leids durch den Tunnel wehte. Der Geist der Nächstenliebe", sagt Marx. Nach der Katastrophe wurden die Helfer, unter ihnen viele Ehrenamtliche, die noch nie im Leben einer auch nur annähernd ähnlich katastrophalen Situation ausgesetzt waren und trotzdem weit über die Grenzen ihrer Möglichkeiten gingen, als die "Helden von Duisburg" gewürdigt. An dem Tag aber mussten sie sich im Chaos behaupten. Rettungswagen konnten nicht in den Tunnel fahren, weil es zu voll war. Doch die Schwerverletzten mussten dringend abtransportiert werden, um noch mehr Tote zu vermeiden.

Notarzt Marx übernahm spontan die Koordination in der Todesröhre, ließ den Tunnel räumen, behielt den Überblick im Chaos. Endlich wurde auch eine Gasse für die Krankenwagen gebildet, Hubschrauber landeten auf der Autobahn, um die schwersten Notfälle auszufliegen und in die Krankenhäuser der Region zu bringen. Bis zum Abend wurden 4000 Rettungskräfte aus ganz Deutschland in der Stadt eingesetzt. Duisburg war ein Katastrophengebiet. Marx arbeitete ununterbrochen bis halb fünf am Sonntagmorgen. Dann musste auch der Notarzt seine Grenzen erkennen und erschöpft kapitulieren. "Es war der schlimmste Tag meines Lebens und die Hölle auf Erden."

(csh)
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