Buch: "Die Pille und ich" Ein Mann in der Hormon-Hölle

London (RPO). Der Journalist und Autor Clint Witchalls hätte einen Orden verdient. "Unermüdlicher Einsatz für Wissenschaft und Emanzipation" könnte auf der dazugehörigen Urkunde stehen. Der Brite testete anderthalb Jahre die "Pille für den Mann". Weil Verhütung eben auch Männersache ist. In seinem Buch berichtet er informativ und schreiend komisch von seinem Ausflug in die hormonelle Hölle.

 Das Cover von "Die Pille und ich", erschienen bei Rowohlt.

Das Cover von "Die Pille und ich", erschienen bei Rowohlt.

Foto: Verlag

Die Ausgangslage: Clint Witchalls ist 42-Jahre und dreifacher Familienvater. Er arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist. Finanziell kommt die Familie über die Runden, mehr nicht. Mit seiner Frau ist er sich einig: Weiterer Nachwuchs sollte sich nicht einstellen. Hier fangen die Probleme an. Kondome hasst Witchalls. Coitus interruptus ebenfalls. Seine Frau bekommt von der Antibabypille heftige Migräne. Sterisilieren lassen möchte sich Witchalls auch nicht. Die Vorstellung, ein Arzt macht sich mit einem scharfen Messer an seiner Männlichkeit zu schaffen, befremdet ihn. Durchaus verständlich. Der vermeintliche Glücksfall: Der Pharma-Riese Bayer Schering sucht Probanden für eine neue Studie: "Die Pille für den Mann". Witchalls wittert seine Chance. Nie mehr Kondome. Und eine interessante Geschichte für ein Buch obendrein.

Der Versuch: Die Pille für den Mann - sie ist gar keine Pille. Ärzte verpflanzen Witchalls ein kleines Röhrchen in den Unterarm. Das Röhrchen gibt kontinuierlich weibliche Hormone ab, verhindert so die Samenproduktion. In Abständen von einigen Wochen bekommt der Proband männliche Hormone (Testosteron) per Spritze injiziert. Nicht zuletzt um drohendes Brustwachstum zu verhindern. Der Versuch dauert eineinhalb Jahre.

Die Auswirkungen: Für den Autor unterteilt sich das Leben in dieser Zeit in zwei Phasen. Vor der Testosteron-Spritze und nach der Testosteron-Spritze. Kurz nach der Injektion weiß Witchalls nicht wo hin mit seiner Kraft. "Vögeln und Kämpfen, das ist alles woran ich derzeit denken kann", schreibt er. Der bisher eher verträgliche Zeitgenosse beginnt sich für Kampfsport zu interessieren, ist auch im Alltag Prügeleien durchaus zugetan. Ein versehentlicher Rempler auf dem Gehsteig und bei Witchalls stehen die Zeichen auf Krieg! Lust auf Sex hat er immer und überall.

Nach einiger Zeit verliert sich die Wirkung des Männlichkeitshormons. Das Röhrchen im Arm gibt indes weiter seinen Wirkstoff ab. Der Autor fällt in ein tiefes Tal. Im Job will ihm nichts mehr gelingen. Jede Form der Kritik macht ihn unsicher. Witchalls ist sicher, dass ihm Brüste wachsen. Mit seiner Frau will er plötzlich lieber lange reden statt ins Bett. Abends vor dem Fernseher kuscheln. Manchmal weint er auch, einfach so. PMS-Stress pur. Ein Mann in der Hormon-Hölle. "Die Hormone lassen dich langsam zur Frau werden", befindet seine Gattin. Auch das hilft nicht.

Gegen Ende wird es richtig ernst: Witchalls erkrankt nach der Dauer-Achterbahnfahrt ernsthaft an Depressionen, zieht sich fast völlig zurück. Die seelische Erkrankung muss medikamentös behandelt werden.

Das Buch: Ernstes Thema oder nicht - Witchalls ist ein unterhaltsames, pfiffiges und stellenweise schreiend komisches Buch gelungen. Die Episoden aus seinem Alltag lassen mitleiden und mitfreuen - je nach Hormonlage des Autors. Ob man seinen Bericht wirklich ernst nehmen kann, bleibt eher dahingestellt.

Witchalls plaudert freizügig aus seiner bewegten Drogenvergangenheit, gesteht offenherzig einen tendenziell bedenklichen Umgang mit Alkohol. Der bekennende Hypochonder warf schon vor dem Versuch täglich Pillen ein, zum Beispiel Betablocker bei ersten Anzeichen von Stress. Ist dieser Mann der geeignete Kandidat für eine Medikamentenstudie? Eher nicht. Ist Witchalls Buch eine amüsante Lektüre mit dem ein oder anderen Aha-Effekt? Mit Sicherheit.

Die Zukunft: Witchalls Fazit ist eindeutig. Die "Pille" für den Mann hält er prinzipiell für eine gute Idee. Sollte sie wirklich auf den Markt kommen, will er aber garantiert die Finger davon lassen. In Versuchung dürfte er in den nächsten Jahren ohnehin nicht kommen. Pharmariese Bayer Schering stoppte vorerst alle Maßnahmen zur Markteinführung. Gründe gab der Konzern nicht an.

Muss er auch nicht. Clint Witchalls Buch übernimmt das. Für hormonelle Krisen sind Männer anscheinend ungeeignet.

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