Süchtige Schüler in Japan Mobil - aber einsam

Tokio (RP). Viele japanische Schüler sind süchtig nach SMS und E-Mail. Ein Leben ohne Mobiltelefon können sie sich nicht mehr vorstellen. Sie verbringen Stunden mit dem Versenden von Kurzmitteilungen. Soziale Kontakte bleiben dabei auf der Strecke - stattdessen wird per Handy gemobbt.

 Gefährliche Alleskönner: Handys machen japanische Mädchen krank.

Gefährliche Alleskönner: Handys machen japanische Mädchen krank.

Foto: ddp, ddp

Eine Umfrage der japanischen Regierung ergab kürzlich, dass ein Drittel der Grundschüler ein Handy benutzt. In der weiterführenden Schule sind es schon 96 Prozent der Schüler. Sie brauchen die Mobiltelefone, um SMS zu verschicken, zu plaudern, Bücher zu lesen, Musik zu hören und im Internet zu surfen. Junge Mädchen hängen im Schnitt 124 Minuten am Tag am Handy, Jungen 92 Minuten. Experten beklagen schon jetzt Kommunikationsdefizite bei Teenagern. Sie haben auch festgestellt, dass Schüler das Handy immer häufiger für Mobbing missbrauchen.

Alleskönner werden zur Droge

Zwar eröffnen die elektronischen Alleskönner neue Möglichkeiten des Lernens und Kommunizierens. Doch für manche Teenager werden sie zur Droge. Auf die Frage, was ihnen abgesehen von ihrem eigenen Leben am wichtigsten sei, antworteten viele japanische Schüler "Mein Handy!”, berichtet Masashi Yasukawa, Vorsitzender des Nationalen Internet-Beratungsgremiums. "Sie bewegen ihre Daumen sogar, während sie essen oder fernsehen.”

Ihr Leben funktioniere nicht ohne Handy, berichtet etwa die 20-jährige Ayumi Chiba. "Wenn ich mal vergessen hatte, es mit in die Schule zu nehmen, habe ich eine Krankheit vorgegaukelt, so dass ich eher heim konnte.” Viele Jugendliche fühlten sich ohne ihr Handy unsicher, erklärt der Tokioter Soziologieprofessor Hideki Nakagawa. Bei einer Studie mit 1600 japanischen Mittelschülern um die 14 Jahre gaben 60 Prozent an, ein Mobiltelefon dabei zu haben. Dabei nutzen die Schüler ihr Handy weniger für Plauderei als für Kurzmitteilungen. Sie fühlten sich sicherer, wenn sie es nicht mit einem Gegenüber aus Fleisch und Blut zu tun hätten, sagt der Studienleiter, Pädagogikprofessor Tetsuro Saito, der um die Kommunikationsfähigkeiten seiner jungen Landsleute fürchtet.

Das Beispiel der 18-jährigen Tomomi bestätigt seine Sorge. Die Schülerin verschickt täglich rund 20 E-Mails. "Es gibt Leute, mit denen ich nicht spreche, selbst wenn ich sie in der Schule sehe. Wir tauschen nur E-Mails aus. Ich schätze, uns verbindet nur ein Apparat.” Saitos Studie ergab, dass manche Jugendliche ihr Mobiltelefon als eine Art emotionale Krücke brauchen. Dabei gilt: Je mehr Probleme im Elternhaus, desto größer die Handy-Sucht. So verschicken 60 Prozent der Schüler, die zuhause unglücklich sind, 20 oder mehr E-Mails pro Tag. Bei den zufriedenen Jugendlichen sind es nur 35 Prozent.

Mobben per Handy

Je mehr das Handy das Leben der Schüler in Japan bestimmt, desto größer werden auch die Gefahren. So nutzen manche Jugendliche ihr Mobiltelefon für Schikane. Internet-Experte Yasukawa nennt das Beispiel eines 15-jährigen Opfers. "Du stinkst!”, stand in den anonymen SMS, die das Mädchen erhielt, oder gar "Stirb!”. Hinter dem Telefonterror steckte eine vermeintliche Freundin. Diese gab an, sie habe sich angesichts der Angst ihrer Kumpanin gut gefühlt.

Wird ein Jugendlicher gemobbt, so könne er auf virtuellem Wege einen anderen Mitschüler wegen irgendeiner Nichtigkeit an den Pranger stellen, sagt Yasukawa. Das führe dann zu einem regelrechten "Überlebensspiel unter Kindern”.

"Eltern ahnen ja nicht, dass sich hinter den Handy-Displays eine wirklich schaurige Welt verbirgt”, sagt Yasukawa. Da Schüler per Mobiltelefon persönliche Informationen preisgeben, können sie auch ins Visier von Betrügern oder Pädophilen geraten. Nur etwa ein Prozent der jungen Nutzer hat seinen Worten nach eine eingebaute Sperre für möglicherweise zwielichtige Seiten.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort