Amoklauf in Winnenden Täter suchen das Gefühl von Macht

Düsseldorf (RP). Der Amoklauf von Winnenden hat ganz Deutschland in einen Schockzustand versetzt. Der 17-jährige Tim K. tötete mit gezielten Schüssen 15 Menschen. Was treibt einen jungen Mann zu einer solchen Bluttat?

Tim K. - der Amokläufer von Winnenden
10 Bilder

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Amokläufer halten sich nicht für Täter, sondern sehen sich selbst als Opfer: gedemütigt, schwach, verkannt. Die Waffe in der Hand gibt ihnen für kurze Zeit das Gefühl der totalen Kontrolle. Überlebende Opfer eines Amoklaufs werden die Bilder der Bluttat und ihre Angstzustände oft bis ans Ende ihres Lebens nicht mehr los.

Die Amoktäter Robert S., Sebastian B., Matti S. und jetzt Tim K. haben nicht zufällig ähnliche Lebensläufe. Sie waren jung, männlich und frustriert, sie fanden sich in ihrem Leben nicht zurecht, fühlten sich gedemütigt. Ob Erfurt, Emsdetten, Finnland oder jetzt Winnenden, "die Täter haben einen gemeinsamen Auftritt", sagt Joachim Kersten, Soziologe an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster.

"Durch Demütigungen, die der Täter ertragen hat, sieht er sich selbst als Opfer", sagt Kersten. Negative Ereignisse empfindet er schnell als persönliche Kränkungen. "Er ist isoliert, aber auch kein Unbekannter in seiner Umgebung", sagt Kersten.

Problem mit seinem Selbst

Typisch sei eine zurückhaltende, eher freundliche Art. Der Täter habe zudem oft ein Problem mit seinem Selbst. Er empfinde sich als schwach und klein. Gepaart mit dem Gedanken an Gewalt und der Faszination für Waffen werde die "Selbstaufrichtung" zum alles beherrschenden Thema, so Kersten. Mit dem Amoklauf werde er groß.

Der Nachahmungseffekt kann dann Auslöser für eine Tat sein, sagt Kersten: "Ich habe heute morgen die Bilder aus Alabama gesehen und gedacht, 'Hoffentlich sieht das niemand, der hier kurz vorm Explodieren steht.' Solche Bilder sind für Amokläufer wie Pornografie."

Sie können eine Initialzündung sein. Die Gewalthandlung selbst werde von dem Amokschützen regelrecht inszeniert. Dabei nimmt der Täter seinen eigenen Tod in Kauf. "Er sieht die Bilder eines anderen Massakers und will genauso groß und beherrschend sein, wie das, was er sieht", erklärt Kersten.

Dass der Täter über Waffen verfügt, wie in Winnenden, gehöre zum typischen Profil der Umstände. Der Täter handelt nicht im Affekt, so der Experte. Die Tat sei vielmehr der Abschluss einer oft jahrelangen Fehlentwicklung und unbewältigter Konflikte.

Im Tatgeschehen nehme der Amokläufer Menschen nur noch als "Moving targets" (Ziele in Bewegung) wahr. Er erlebt den "Tod des inneren Selbst", sagt Kersten. Die Steuerung der Impulse sei ausgeschaltet. Dennoch wirkt er während der Bluttat kontrolliert, berechnend und klar, schießt aber wahllos — auf alles was sich bewegt, für ihn erkennbar noch lebt.

Opfer werden willkürlich ausgewählt

Schüler oder Lehrer von denen er sich beleidigt fühlt, können die ersten Opfer sein, sagt Kersten. Danach schießt er willkürlich. Warum passierte, was passiert ist — die Frage, auf die es nie eine Antwort geben wird, verfolgt die Überlebenden nach dem Amoklauf ebenso so beharrlich wie die grausigen Bilder vom Geschehen.

"Unmittelbar nach dem Ereignis reichen die Reaktionsmöglichkeiten von Erstarren über Taubheit bis zu Tobsucht", sagt Robert Bering, Leitender Arzt am Zentrum für Psychotraumatologie am Krefelder Krankenhaus Maria-Hilf. "Manche Menschen lassen sich dann auch erst einmal überhaupt nichts anmerken."

Das erste Symptom ist dann häufig das, was Mediziner als "dissoziativen Zustand" beschreiben. "Zum Beispiel sagen die Überlebenden eines Amoklaufs, sie hätten von oben auf das Ereignis geschaut, oder, dass sie nur rot gesehen hätten", sagt Bering.

"Sie klagen über Erinnerungslücken, manchmal tritt das Gefühl auf, alles in Zeitlupe gesehen zu haben." Gleichzeitig, mitunter auch erst nach einigen Tagen oder Wochen, leiden so gut wie alle Betroffenen Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Hyperaktivität, Flashbacks, Albträumen und Angstzuständen.

"Um Panik auszulösen, reicht es, wenn jemand auftaucht, der dem Amokläufer nur ähnelt, oder der eine Bewegung macht, die der Täter gemacht hat", sagt Hartmut Jatzko. Der Trauma-Experte hat bereits Schüler des Erfurter Gutenberg-Gymnasiums betreut, Überlebende des Tsunamis und des Birgenair-Absturzes.

Wenn diese Symptome nach etwa vier Wochen nicht abklingen, sich eventuell sogar noch verschlimmern, ein Schüler sich nicht mehr nur nicht in die Schule, sondern gar nicht mehr aus dem eigenen Haus traut, spricht man von einer posttraumatischen Belastungsstörung, nach drei Monaten gilt sie als chronisch.

Statistisch gesehen entwickelt jeder dritte Mensch eine solche posttraumatische Belastungsstörung, sagt Miriam Köhler von der Traum Transform Consult, die sich gestern an der Erstbetreuung der Überlebenden beteiligte. Die Wahrscheinlichkeit steigt jedoch mit der Dauer des Ausnahmezustandes (Tim K.s Amoklauf dauerte insgesamt rund drei Stunden) und mit der Bekanntheit des Täters (er lernte bis 2008 selbst an der Realschule). Nach dem Amoklauf in Erfurt zum Beispiel war der größte Teil der mehr als 600 Schüler und Lehrer auch ein Jahr später noch in Therapie.

Dort lernen die Überlebenden, die Kontrolle über die Bilder zu bekommen, die immer wieder in ihren Köpfen auftauchen. Mit schnellen Augenbewegungen etwa können sie die Eindrücke löschen, manche lenken sich mit Rechenübungen ab, um scheinbare Gefahrensituationen bewältigen zu können, auch bestimmte Bewegungen oder Körperhaltungen können den Betroffenen helfen, sich sicherer zu fühlen.

"Letztlich können Betroffene nur lernen, mit dem Trauma zu leben", sagt Jatzko, "das Ereignis lässt sich nicht wegtherapieren". Derartige Extremsituationen werden mit anderen prägenden Erfahrungen in bestimmten Hirnkernen gespeichert, die überlebensnotwendig sind.

Von dort aus werden sie, sobald sich ähnliche Umstände ergeben, reflexartig abgerufen. So würden viele Überlebende des Erfurter Amoklaufs, sagte eine Sprecherin des Gutenberg-Gymnasiusm gestern, durch Tim K.s Tat sicherlich "wieder rückfällig werden".

(RP)
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