Amokläufer Tim K. Der nette Junge — ein Massenmörder

Leutenbach (RP). Tim K., der Unternehmer-Sohn, wurde 2008 fünfmal stationär in psychiatrischen Einrichtungen behandelt. In einem Brief an seine Eltern soll er kürzlich noch geschrieben haben, er leide und könne nicht mehr weiter. Aggressive Züge soll der Junge niemals gezeigt haben – bis zu diesem Mittwoch.

Tim K. - der Amokläufer von Winnenden
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Leutenbach (RP). Tim K., der Unternehmer-Sohn, wurde 2008 fünfmal stationär in psychiatrischen Einrichtungen behandelt. In einem Brief an seine Eltern soll er kürzlich noch geschrieben haben, er leide und könne nicht mehr weiter. Aggressive Züge soll der Junge niemals gezeigt haben — bis zu diesem Mittwoch.

Viel unauffälliger als die Unternehmerfamilie aus dem Ortsteil Weiler zum Stein im schwäbischen Leutenbach kann man nicht wohnen. "Hier wohnt die Familie K." steht auf dem selbstgetöpferten Türschild; zwei Gänse mit roten Halsschleifen; ein Schriftband mit dem Namenszug. Das weiße Haus mit Rauverputz ist großzügig, es gibt eine Dachterrasse und einen Wintergarten. Hier ist Tim K. mit seiner zwei Jahre jüngeren Schwester groß geworden und eigentlich nie jemandem sonderlich aufgefallen.

Die Mutter soll eine ausgebildete Kindergärtnerin sein, heißt es. Vater Jörg K. ist ein hart arbeitender Unternehmer, der im Kreis Ludwigsburg eine Firma mit 100 Mitarbeitern besitzt. Vor zehn Jahren hat Jörg K. seine Firma aus der Nähe von Waiblingen verlegt und aus der früheren Druckerei einen Dienstleister für Lohnverpackungen und Lohnmontagen gemacht.

Auch zu Hause lege er den Patriarchen-Ton nicht ab, erzählen die Nachbarn. Manchmal nimmt er seinen Sohn mit in den Schützenverein, wo Tim als Gastschütze auf Scheiben schießen darf. In der Welt von Jörg K., der seinem Sohn selbstverständlich die Tat niemals zugetraut hätte, hat man nichts mit den Nerven.

"Er schrieb seinen Eltern, dass er leidet"

Doch Jörg K. und seine Frau müssen wissen, dass mit Tim nicht alles in Ordnung ist. Eine zwölfjährige Teilnehmerin des Trauergottesdienstes berichtet am Mittwochabend der Nachrichtenagentur AP, Tim K. habe ihr vor etwa drei Wochen einen Brief gezeigt. "Er schrieb seinen Eltern, dass er leidet und nicht mehr weiter kann", wird Fabienne B. zitiert.

Tim K. habe geklagt, Mitschüler hätten sich über ihn lustig gemacht, die Lehrer hätten ihn ignoriert. Der 17-Jährige besucht zuletzt eine Privatschule, die ihn auf eine kaufmännische Ausbildung vorbereiten soll. Die Albertville-Realschule hat er im vergangenen Jahr nur mit durchschnittlichen Noten abgeschlossen. Die Rektorin der Albertville-Realschule in Winnenden sagt, ihr sei nicht bekannt, dass ihr damaliger Schüler "in irgendeiner Form gemobbt wurde oder dass er gewalttätig war".

In psychiatrischer Behandlung

Bei der Durchsuchung des Elternhauses finden die Ermittler in Tims Zimmer eine Bescheinigung über seine Wehrdienstfähigkeit. Aus ihr geht hervor, dass der 17-Jährige im vergangenen Jahr wegen Depressionen in psychiatrischer Behandlung war. Fünf stationäre Aufenthalte soll es zwischen April und September gegeben haben.

Laut Baden-Württembergs Innenminister Heribert Rech (CDU) war Tim K. zunächst in Heilbronn behandelt worden. Diese Therapie sollte dann in Winnenden fortgesetzt werden — in genau der Psychiatrischen Landesklinik, die unmittelbar neben der Realschule liegt und auf deren Gelände Tim K. am Mittwoch den Gärtner erschoss.

Die Polizei ist sicher, dass Tim K. in der Albertville-Realschule sein eigentliches Ziel gar nicht erreicht hat — noch mehr Schülerinnen und Schüler zu töten. Nur das Vorgehen der drei Beamten, die zuerst an der Schule eintrafen, habe ein noch schlimmeres Massaker verhindert.

Das Gefühl absoluter Macht

Nach dem neuen Amok-Konzept der baden-württembergischen Polizei waren die ersten drei Beamten, die an der Schule eintrafen, hineingegangen und versuchten, den Täter zu stellen. Als Tim K. sie entdeckte, schoss er auf die Polizisten und trat die Flucht an — alles, was ab da geschah, kann nicht mehr Teil seines Plans gewesen sein: Er muss sich auf dem Schulgelände verstecken, weiß offenbar nicht weiter — und fasst dann offenbar einen neuen Plan. .

Als er auf dem Gelände der angrenzenden Psychiatrischen Klinik, in der er sich nicht behandeln lassen wollte, einen Gärtner erschießt und schließlich einen 41-jährigen Autofahrer als Geisel nimmt, von dem er sich nach Wendlingen fahren lässt, erlebt er noch einmal das Gefühl absoluter Macht. Er ist sogar richtig guter Laune, während er den Fahrer mit dem Tod bedroht. Er fragt ihn, ob er einen Spaß machen soll.

Damit meint Tim K., er könne ja ein paar von den übrigen Autofahrern auf der Straße erschießen. Denn diesmal lacht niemand über Tim K., jetzt lacht er. Ab diesem Moment weiß der 41-Jährige, dass Tim K. ihn töten wird, wenn es ihm nicht irgendwie gelingt, aus dem Auto zu kommen. An der Polizeisperre der Wendlinger Autobahnauffahrt gelingt es ihm. Er ist der Einzige, der Tim K. während seines Amoklaufs vor den Lauf seiner Waffe kommt und es überlebt.

So normal ist wie die gestutzten Büsche im Garten

Gerade weil Tim K. offenbar niemals wirklich aggressive Züge gegenüber Dritten zeigt, nicht aufbegehrt, gegen gar nichts, weil er zwei Jahre ein netter Konfirmand der evangelischen Gemeinde in Weiler zum Stein ist, noch am vergangenen Wochenende in der Tischtennis-Kreisliga in zwei Punktspielen antritt (eins gewinnt er, eins verliert er), weil er in seiner Umgebung so normal ist wie die gestutzten Büsche im Garten seiner Eltern und das getöpferte Namensschild — deshalb scheint so unverständlich, wie aus dem netten kleinen Jungen ein Massenmörder werden kann.

Auf seinem Computer finden die Ermittler unter anderem das berüchtigte Spiel "Counter-Strike" und Pornobilder. Aber sie finden keine Anzeichen dafür, dass Tim K. ein gestörtes Verhältnis zu Frauen hat. Er soll für ein Mädchen aus der Nachbarschaft geschwärmt haben, hatte wohl auch mal eine Freundin. Dass er in der Schule vor allem auf Mädchen geschossen hat, könnte eine viel einfachere Erklärung haben: In den Klassenräumen, in denen Tim K. mordete, saßen in der Nähe der Türen überwiegend Mädchen.

(RP)
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