Düsseldorf Hänsel und Gretel – so schön wie früher

Düsseldorf · Die Deutsche Oper am Rhein spielt im Advent stets Humperdincks Märchenoper – seit 43 Jahren. Ein nostalgisches Vergnügen.

Genauso muss ein Märchenwald aussehen: Als sich der Vorhang hebt, blickt der Zuschauer auf fein gepinseltes dunkles Blattwerk, bühnenhoch. Man hört es wispern zwischen diesen Wipfeln, dies ist ein Wald zum In-die-Irre-Gehen. Nur auf wenigen Blättern schimmert ein wenig weißes Licht von der fahlen Mondscheibe. Der nächtliche Himmel ist tintenblau. Wie einsam wirken die beiden Kinder vor dieser mächtigen Kulisse: Hänsel und Gretel allein in der Kate. Kein Wunder, dass sie sich an den Händen fassen, und sich mit einem Liedchen Mut ansingen: "Brüderchen, komm, tanz mit mir/ Beide Händchen reich' ich Dir/ Einmal hin, einmal her/ Rund herum, es ist nicht schwer!" Die Sänger drehen sich im Kreise, so übermütig, dass sich Gretels Röckchen bläht, die Zöpfe fliegen. Und Hänsel kommt so aus der Puste, dass er später hungrig den Finger in den Milchrahm steckt. Wem würde nicht wohlig zumute beim Blick in diese Idylle? Dies ist Theater wie aus seligen Zeiten, lebendig gewordene naive Kunst.

Seit 43 Jahren spielt die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf und Duisburg in den Wochen vor Weihnachten "Hänsel und Gretel", die spätromantische Märchenoper von Engelbert Humperdinck (1854 – 1921). Die Inszenierung ist seit ihrer Premiere am 26. Oktober 1969 fast unverändert, ein bestens konserviertes Stück Theatergeschichte, eine Rarität.

Wer die Aufführung besucht, wird bald spüren, dass sie heute so gut funktioniert wie vor 40 Jahren. Im Publikum sitzen viele Kinder im feinen Kleidchen für den Theaterbesuch. Einige müssen auf Kissen hocken, um überhaupt über die Vorderreihen schauen zu können. Sie wibbeln herum, warten, dass sich der Vorhang hebt. Doch schon während Christoph Altstaedt die Düsseldorfer Symphoniker durch die Ouvertüre dirigiert, all die bekannten Melodien anklingen lässt, die bis heute in Kinderzimmern gesungen werden, beruhigen sich die jungen Zuschauer. Und dann öffnet sich der Vorhang, gibt den Blick frei auf diese sorgsam gemalte Szenerie, den Wald, die Hütte, die Lichtung mit Hügel und grünem Moos. Und schon sind junge wie ältere Zuschauer mitten in der Geschichte.

Die ist ja keineswegs harmlos. Hänsel und Gretel sind bitterarm. Als der Topf mit der fetten Milch zu Bruch geht, ist die Mutter existenziell verzweifelt, weil die Ernährung der Familie nun gefährdet ist. Auch das zeigt die Inszenierung mit Bemühen um Realismus. Hier wird nicht verniedlicht, aber auch nicht verfremdet – der Zuschauer kann schauen, er muss nicht entschlüsseln. Alles ist, was es ist. Das macht die Inszenierung einfach verständlich. Es ist, als blättere man durch ein Märchenbuch des 19. Jahrhunderts. Die Bühnenbilder wirken wie Aquarelle, die Kostüme stammen aus der Handlungszeit, die spätromantische Musik zaubert märchenhafte Stimmungen herbei, feiert die unschuldigen Weisen des Kinder- oder Volksliedguts. All das umschmeichelt den Betrachter, irritiert nicht, provoziert nicht, will nur eins: den Zuschauer in eine Fantasie entführen. Ihn zwei Stunden lang aus dem Alltag reißen und die böse Hexe in den Ofen befördern – wenigstens auf der Bühne sind Gut und Böse einmal klar verteilt und der Sieger steht auf der rechten Seite.

Die Deutsche Oper am Rhein behandelt diese historische "Hänsel und Gretel"-Inszenierung wie einen alten Schatz, den man pflegen muss. Jedes Jahr werden sacht Renovierungsarbeiten vorgenommen. Dann bekommen die Engel zum Beispiel neues Silberhaar, oder es gibt gar ein neues Knusperhäuschen, wie in diesem Jahr. Doch die neue Lebkuchen-Immobilie ist gestaltet wie die alte: mit feinem Mandeldekor, süßen Kirschen, Zuckerschnee. Hier sollen keine Moden aufgenommen, nichts an die Gegenwart angeglichen werden. Das Lebkuchenhaus wird weder zum Bungalow noch zur Sozialwohnung, sondern sieht mit spitzem Giebel, Schornstein, Holzfenstern genau aus wie vom Zuckerbäcker.

Diese Inszenierung ist ein Bekenntnis: Sie will aus der Zeit fallen, will Märchenwirklichkeit sein. Es ist am Zuschauer, seine Interpretation in die alten Bilder hineinzudenken. Gezwungen wird er freilich nicht. Wer will, kann sich auch zurücklehnen und nur genießen. Dieses Theater ist kulinarisch – süße, keine intellektuelle Kost.

Jedenfalls trifft man im Foyer Kinder mit roten Wangen, die von der Hexe erzählen und dem Käfig, in den sie den armen Hänsel gestoßen hat. Melina (8) und Coraline (6) sind so begeistert, dass sie das Stück in diesem Jahr schon zum zweiten Mal sehen. "Ich hab mich an alles erinnert", sagt Melina stolz, "auch die Lieder habe ich alle wiedererkannt." Vater Niko Spathis lächelt. Dann erzählt er, dass es die Idee der Kinder war, in die Oper zu gehen. Sie wollten das Stück unbedingt noch einmal sehen.

Er selbst findet die Inszenierung schon ein wenig kindlich. "Man ist da als Erwachsener ein wenig rausgewachsen", sagt Spathis, doch mache es ihm Freude, dass die Kinder so in die Geschichte eintauchten. Daheim haben sie vorher über das Märchen gesprochen und auch darüber, dass es tatsächlich einmal Zeiten gab, in denen Menschen als Hexen verbrannt wurden. Doch im Theater steht nun das Vergnügen im Vordergrund. Die Kinder haben eine kleine Tupperdose mit Nüssen dabei zur Stärkung in der Pause. An der Theke im Foyer seien ja immer lange Schlangen, also hat die Familie auf Selbstversorgung umgestellt.

Auch Nael Herlin (6) findet es kein bisschen langweilig, zwei Stunden in die Oper zu gehen. Er kennt das Märchen ebenfalls genau und hat alle Figuren wiederentdeckt, die er vom Vorlesen kennt. So hat auch für ihn die Inszenierung bestens funktioniert.

Doch das ist keine Frage des Alters. Im Foyer stehen auch ältere Zuschauer, die nicht als Kinderbegleitung in die Vorführung gekommen sind, sondern weil ihnen genau diese Art von Theater besonders gut gefällt. Renate Cranz zum Beispiel ist passionierte Operngängerin, doch irgendwann hatte sie genug von modernen Inszenierungen mit provokanten Regiekonzepten. "In dieser Aufführung kann man sich wirklich auf die Geschichte konzentrieren und sich an der Musik erfreuen", sagt Renate Cranz, "deswegen haben wir uns bewusst für dieses Stück entschieden – das ist keineswegs nur etwas für Kinder."

Tatsächlich ist es sehr still im Opernhaus als Hänsel und Gretel sich im Wald schlafen legen und das vielleicht schönste Wiegenlied der Musikgeschichte erklingt: "Abends wenn ich schlafen geh'/ vierzehn Engel um mich steh'n". In bodenlangen Gewändern schreiten die Himmelsboten auf die Bühne, stellen sich im Kreis um die schlummernden Kinder, weisen schließlich mit den Händen hinauf zum Mond, wo sich auf dem gemalten Himmel weitere Engelskörper abzeichnen. Das ist Romantik in Ton und Bild, ungebrochene Beschaulichkeit, die zu Herzen geht. Plötzlich wirken die beiden verlorenen Kinder in diesem dunklen Wald vollkommen behütet – und der Zuschauer kann bei ihrem Anblick in einem Gefühl schwelgen, das in seiner Wirklichkeit fast verloren ist. Auch dafür kann Theater gut sein – einmal im Jahr, wenn der Lebkuchen so süß duftet.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort