Herzensangelegenheiten Wir verschenken wieder Literatur

Düsseldorf (RPO). Unser Autor Stefan Petermann bringt Mitte September seinen ersten Roman heraus, Der Schlaf und das Flüstern. In der vergangenen Woche haben wir das erste Kapitel veröffentlicht, heute gibt es das zweite - auch als pdf.

Herzensangelegenheiten: Wir verschenken wieder Literatur
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Düsseldorf (RPO). Unser Autor Stefan Petermann bringt Mitte September seinen ersten Roman heraus, Der Schlaf und das Flüstern. In der vergangenen Woche haben wir das erste Kapitel veröffentlicht, heute gibt es das zweite - auch als pdf.

Kapitel 2

Pola. Das Schmetterlingszimmer

Das erste Anzeichen eines Bruches. Wie eine Glasscheibe, durch die, bevor sie zersplittert, Risse laufen. An einer Stelle ist die Scheibe unversehrt. Nichts deutet den endgültigen Sprung an. Feine Unregelmäßigkeiten beginnen zu fließen, knacken gedämpft und schneiden schmale Schlieren ins Glas, vereinen sich zu einem Muster, bewegen sich unvermeidlich auf den Riss zu, den Bruch. Bevor das Glas bricht, werden Narben sekundenbruchteilelang offenbart und die Welt schaut gespannt hindurch, klopft vorsichtig mit dem Finger dagegen.

Meine erste Erinnerung: Die Welt steht still. Eine wirkliche Erinnerung. Keine von denen, die unverhofft kommen und rasch gehen, wenn man nach ihnen greifen will. Kein zufällig aufgeschnappter Geruch, der plötzlich ein verschüttet geglaubtes Bild hervorruft, kein Gedankenblitz, der in den Kopf fährt und eine Szene enthüllt, die vor Jahrzehnten spielte. Nein, ich habe eine Erinnerung, die man erzählen könnte, wenn jemand zum Zuhören bereit ist. Bist du das? Wirst du mir glauben, wenn ich davon erzähle?

Vielleicht ist es mir schon in den Jahren zuvor gelungen. Vielleicht, und das scheint nicht so unglaublich, nicht so unbegreiflich wie der Rest der Geschichte. Doch das ist mir nicht gegenwärtig. Ich kann nicht sagen, ob es früher geschah. Also nehme ich es an. Bruchteile von Alltäglichkeiten sind es, die sich zu einem Bild fügen. Auf dem Tisch ein dampfender Topf mit Kartoffeln, daneben eine Schüssel, gefüllt mit kaltem Kräuterquark. Eine gestickte Decke. Der gezackte Goldrand der Schüssel kaum ausgeblichen, weil sie nur am Sonntagmittag benutzt wird. Meine Mutter, die solche Entscheidungen traf. Die Herrscherin des Sonntagnachmittags, denn an den Wochentagen war sie kaum zu Hause. Eine große Frau, mit feingliedrigen Fingern, offenem Haar, den Mund ständig in Bewegung. Aufmerksam kontrollierte ihr Blick die Ordnung aller Details. Sonntags war sie für die Familie verantwortlich. Und diese Aufgabe nahm meine Mutter sehr ernst. Mein Vater. In sich gesunken, die Hände unter dem Tisch, die Uhr auf der Fensterbank abgelegt. Leise den Takt eines Liedes mit dem Fuß stampfend. Er wartete auf das Essen, wartete auf Mutter, fügte sich ihren Gepflogenheiten, ging den Weg, den sie bestimmte. Beim gemeinsamen Frühstück keine Zeitung lesen, sondern miteinander sprechen. Beim Kochen einander zur Hand gehen und Gemüse klein schneiden. Auf dem Weg zum Sonntagnachmittagsspaziergang ihren Sender im Autoradio einschalten. Abends zwei Gläser mit Rotwein vorbereiten. Einen schönen Film im Fernsehen aussuchen. Er hatte seine Rechte, mein Vater. Zwischen ihm und Mutter saß ich. Meine Gesichtszüge nur lose ausgeprägt, formlos, zu jung, um wirklich Anteil an Gesprächen haben zu können, zu still, zu brav, zu regungslos. Mein Name ist Pola. Ich bin fünf Jahre alt. Vielleicht auch sechs. Vielleicht auch vier. Jedenfalls kein gutes Alter. Das gibt es sowieso nicht, das gute Alter.

Der leere Teller meiner Mutter glänzte wie ihr zufriedenes Lachen. Sie hatte festgelegt, dass Vater zuerst zu Essen bekam. Ihm allein stand es zu, die erste Wahl über die Nahrungsmittel zu treffen, die Kartoffeln auf den Teller zu schaufeln, den Quark darüber zu geben, mit lauter Stimme "Guten Appetit" zu sagen und dann einen Schluck Wasser aus einem Glas zu trinken. Das war Vaters Vorrecht, hatte meine Mutter beschlossen, und niemand widersprach ihr. In aller Ruhe nahm sie eine Serviette aus dem Serviettenhalter, faltete sie auseinander und legte sie auf ihren Schoß.

"Komm, nimm dir", wandte sie sich an mich. Ich reichte ihr meinen Teller. Sollte sie dies ruhig als Aufforderung verstehen.
"Nein, Pola, du nimmst dir selber. Bist schließlich kein kleines Kind mehr", sagte meine Mutter.
Fünf Jahre. Man ist kein kleines Kind mehr, man ist noch kein großes. Hilfe suchend blickte ich zu meinem Vater. Doch der nickte nur müde und starrte auf das Kräuterquarkmeer, das die Kartoffeln auf seinem Teller ertränkte.
"Tu, was deine Mutter dir sagt."

Widerwillig stach ich die Zinken meiner Gabel in die Kartoffeln und beförderte eine Kartoffel aus der Schüssel auf meinen Teller. Vielleicht grummelte ich verstimmt, vielleicht stieß ich mit meinen Füßen an den Tisch. Ich weiß es nicht mehr. Ich blickte nach unten und als ich wieder aufsah, nun, daran kann ich mich erinnern. Ziemlich gut sogar. Das war der Anfang, dieser Augenblick, das Erleben von etwas, das unglaublich war. Unmöglich. Unheimlich vor allem. Doch das wurde mir nicht sofort bewusst. Im Gegenteil. Ich nahm es hin, so wie man seine Augenfarbe akzeptiert. Oder dass man nicht schnell laufen kann, weil die Beine zu kurz sind. Ist eben so. Erst später, sehr viel später, wurde mir das Unfassbare bewusst. Mir schauderte. Wie habe ich das damals ertragen können, wieso wurde ich nicht verrückt? Es hätte passieren können. Damals jedoch — ich war fünf Jahre alt. Ich ahnte etwas davon, was es auf der Welt geben konnte und was nicht. Doch die Ahnung war nicht mehr als ein Gummiband an meinen Füßen.

Zuerst bemerke ich nichts. Ich sehe in das Gesicht meiner Mutter, meines Vaters. Es ist, als hielten sie die Luft an. Jeder Muskel ist erstarrt, kein unwillkürliches Zucken ihrer Mundwinkel, die Augen geöffnet, aber tot, die Pupillen verhärtet, das Blut gefangen. Ich stelle den Teller zurück auf den Tisch.

Schaufensterpuppen, denke ich und kichere, aber so leise, dass mich niemand hören kann. Mir fällt auf, dass ich mein Kichern höre. Es ist laut, so laut, dass es dröhnt. Und es ist seltsam, weil ich das leise Kichern trainiert habe. Menschen sollen nicht wissen, wenn man kichert, weil man meist über sie kichert. Deshalb kichere ich leise. Und nun gellt mein Kichern durch unser Wohnzimmer.

Ich erwarte einen bösen Blick von meiner Mutter. Doch sie, sie starrt weiter auf die Kartoffelschüssel. Als wäre die Kartoffelschüssel der interessanteste Gegenstand von allen. "Schaufensterpuppen", zittert meine Stimme.
Meine Mutter — unbewegt. Mein Vater — ruhig. Ich muss mehr wagen.
"Schaufensterpuppen", rufe ich in die Stille.
"Schaufensterpuppen! Schaufensterpuppen! Schaufensterpuppen!"
Jetzt ist meine Stimme ein Orkan, der meine Familie hinwegfegen sollte. Doch tut sie nicht. Niemand reagiert. Sie bleiben so, wie sie sind. Wie Schaufensterpuppen. Als habe jemand ihre Bewegungen festgehalten. Eingefroren. Die Gabel am Mund, die Hand auf der Serviette, das Bein in der Luft. Der Rhythmus, den mein Vater gestampft hat, verstummt. Die Zeit steht still.

Vorsichtig drücke ich mich aus dem Stuhl hoch. Noch immer fürchte ich, sie würden einen Scherz machen und jeden Moment erwachen, um dann so zu tun, als wäre nichts gewesen. Ich nehme alles wahr in diesem ersten Moment. Zögernd laufe ich um den Tisch. Berühre die Schulter meiner Mutter, zupfe am Bart meines Vaters. Schöpfe Quark auf meinen Teller. Sehe meine Eltern wie Tote sitzen. Greife nach der Hand meiner Mutter, lege sie in die meine. Sie sind warm, beide Hände. Eine Fliege hängt neben der Stehlampe. Ich pflücke sie aus der Luft und betrachte ihre durchsichtigen Flügel. Vorsichtig lege ich sie auf die Fensterbank. Neben dem Wohnzimmer, in dem der Esstisch steht, befindet sich der Durchgang zu unserer Küche. Ich laufe in die Küche, blicke auf den Wasserhahn, blicke auf einen Wassertropfen. Regungslos hängt er in der Luft, wie ein durchsichtiger Trichter, voll und rund an der Oberseite, um nach unten hin auszulaufen, eine länglich gedehnte Seifenblase. Innerhalb des Tropfens sind viele kleine Tropfen aufgefädelt. Vielfach brechen sie Licht. Mit meinem Zeigefinger bringe ich den Wassertropfen zum Platzen. Er splittert in schillernde Perlen, die in Zeitlupe in die Spüle schweben, um dort lautlos zu explodieren. Ich setze mich wieder, reibe den Zeigefinger an meiner Strumpfhose trocken. Schneide Grimassen. Rufe wieder etwas. Stibitze eine Kartoffel vom Teller meines Vaters. Stecke sie in meinen Mund. Lache. Kichere. Stoße meinen Vater in die Seite. Kitzele ihn. Doch er bleibt in seiner steifen Haltung, rührt sich nicht. Schweigt. Ich starre meine Mutter an. Auch sie wie tot. Und plötzlich fühle ich eine merkwürdige Geborgenheit Besitz von mir ergreifen. Ich sitze mit den Menschen, die meine Familie sind, sitze zwischen ihnen, kann sie ansehen, sie anfassen und doch sind sie keine Menschen. Aber ich bin einer in diesem Moment, vielleicht der einzige. Ich beginne zu lachen. Kein Kichern, kein Glucksen, sondern ein kehliges, herzhaftes Jubeln. Ein Mädchen am Sonntagmittagstisch mit Kartoffeln und Quark. Tränen tropfen auf den Tisch, zerspringen hell und schillernd. Dann falle ich nach vorn. Lachend platscht mein Gesicht in den Quark. Er ist kühl und schmeckt nach Kräutern. Vor meinen Augen beginnt sich die Welt wieder zu bewegen. Ich höre die Stimme meiner Mutter."Pola, spiel nicht mit dem Essen."Schließlich — zum ersten Mal diese Schwärze. Purpurfarbene Schmetterlingsflügel, die durch diese Schwärze zittern, schlotternd, zuckend. Sie treiben davon, verschwinden. Ich habe die Zeit angehalten. Die Welt versinkt schwarz.

An diesem Abend: Mein Bett war mir eine Burg, die Decke Festung und die Kissen Zitadellen, die mich beschützten vor dem, was geschehen war. Nun, da die Foliensterne, die mein Vater an die Decke geklebt hatte, fahl in der Dunkelheit sangen, schien ich mir selbst fremd, selbst einem Traum entsprungen.
Vielleicht gehörte dies zu den Geheimnissen der Großen. Vielleicht konnte man mit fünf Jahren die Zeit anhalten, so wie man Sprechen lernte oder auf zwei Beinen zu laufen.

Die Großen sprachen über so vieles nicht. Manchmal brachen sie Sätze ab, verschluckten Blicke und verbargen, was sie eben gesagt hatten, als hätte man sie bei etwas Verbotenem ertappt. Sie bissen sich auf die Lippen, wenn sie ein Wort zu viel von ihrer Welt preisgegeben hatten. Ihre Geheimnisse schlossen sie in Schatullen, die nur selten geöffnet wurden. Ich wusste, dass sich mein Leben einmal mit ihren Leben vermischen würde. Doch ich kannte den Zeitpunkt nicht. Den allein bestimmten sie. Eines Tages würden sie mich wie ihresgleichen ansprechen und wie selbstverständlich würden sie ihre Geheimnisse mit mir teilen. Sie würden annehmen, ich wäre wie sie. Erleichtert würden sie Vertrauen anstatt Scham spüren. Sie würden mich als ihresgleichen anerkennen. Doch bis dahin galt ich noch als Kind. Noch musste meine Welt vor der ihren geschützt werden. Ich sah den Schein des Flurlichts unter meiner Tür flackern und beschloss herauszufinden, ob das, was heute geschehen war, bei mir bleiben würde, ob der Zustand des Zeitanhaltens geduldet war.

So sind Erinnerungen. Sie lügen und lächeln, sie haben kein Gewissen. Sie haben keine Absicht. Sie sind eine Option. Sie bieten etwas an.

Kurz nachdem ich geboren wurde, verlor mein Vater durch einen Unfall drei Finger. Er hat mir nie erzählt, wie es geschah. Auch Mutter wollte darüber nicht sprechen. Der Unfall passierte während der Arbeit. Er selbst hatte ihn verschuldet. So viel konnte ich herausfinden. Alles Weitere blieb ein Rätsel. Es hieß, nach dem Unfall wäre er nie mehr der Alte gewesen. An den alten Vater konnte ich mich nicht erinnern. Deshalb kannte ich nur den neuen.

Der neue Vater blieb in der Wohnung. Ärzte hatten ihm dazu geraten. Sie sagten, dass es draußen zu viele Dinge gäbe, die Vater aufregen würden. Zweimal die Woche suchten sie ihn auf. Sie stellten ihre schweren Ledertaschen auf den Glastisch und kramten aus ihren Hemdtaschen klebrige Bonbons, die sie zu mir herabreichten. Anschließend baten sie mich, im Kinderzimmer zu spielen. Bonbonkauend sprang ich davon, während sie die Stühle zurechtrückten, auf denen sie meinem Vater gegenübersaßen. Ich glaube, er nahm die Ärzte nie wahr. Er saß die Zeit mit ihnen ab, faltete seine Hände so zusammen, dass die fehlenden Finger nicht zu sehen waren. Gedämpft hörte ich sie murmeln, manchmal drückte ich mein Ohr an die Tür, doch ich verstand nie, was sie sagten. Manchmal hielt ich die Zeit an. Dann konnte ich die Taschen der Ärzte sacht auf der Tischglasplatte summen hören. Ihr Echo hatte sich in der Zeit verfangen. Als hätte man über den Rand von Weingläsern gerieben, so zerbrechlich schwebten die Klänge im Zimmer. Von meinem Vater war das Klackern seiner Pantoffeln zu hören. Er trug gefütterte Hausschuhe mit hölzernen Absätzen, die beim Gehen hohl auf dem Boden klopften. Es war ein hektisches Surren, eine unsichtbare Erregung, so rastlos wie sein Bein, das unter der Tischplatte auf und ab zitterte. Die einzelnen Schläge vermischten sich zu einem hämmernden Brei. Ich konnte dieses Geräusch nicht lange ertragen. Vater blickte die Ärzte nicht unfreundlich an. Oft hatte er Tee für sie gekocht. Wenn die Zeit stillstand, war der Dampf in einer Wolke eingeschlossen, der Wind fehlte, sie weiterzutreiben. Meine Finger stachen Löcher hinein. Die Ärzte hatten Hefter aus dunklem Karton auf ihren übereinandergeschlagenen Beinen liegen. Während sie mit den Köpfen nickten, notierten sie wichtige Informationen. Ich habe sie mir angesehen.

"Heißmangel nicht vergessen!"
"Ruf Mutter an."
"Schwester Christine sagen, dass sie morgen eine Stunde früher kommen soll."
"You reached for the secret too soon."
Die Eintragungen hatten keinen Bezug zu meinem Vater. In der Krankenakte stand stets der gleiche Satz: "Patient verhält sich den Umständen entsprechend." Allerdings wusste mein Vater das nicht. Er dachte, die Eintragungen galten ihm. Doch die Gespräche mit den Ärzten waren Täuschungen. Sie hätten auch von Kittel tragenden Schauspielern geführt werden können.

Später, als ich längst in meinem Zimmer verschwunden war und die Zeit weiterlief, stellten die Ärzte Medikamente zusammen, die in einer Art Plastiksetzkasten nach Wochentagen geordnet waren. Die Pillen hatten verschiedene Farben, damit Vater sie nicht verwechselte. Er wusste genau, wie wichtig die Arzneimittel für ihn waren, und er wusste ebenso, wie sehr er es hasste, die Pillen zu schlucken, aber er wusste auch, dass es nichts gab, was er dagegen tun konnte.

Weil Vater nicht in der Lage war, hinaus zu gehen, interessierte ihn umso mehr, was draußen passierte. Ich sehe ihn vor mir: Wie er im Sessel kauerte und seine Handflächen einen ungeduldigen Rhythmus auf die Polster schlugen. Wie er eine Zeitung las, ständig knitternd die Seiten umblätterte, immer auf der Suche nach außergewöhnlichen Nachrichten aus der Welt. Oft sprang er auf, um zum Fenster zu hasten. Nervös starrte er hinaus, während seine verbliebenen Finger gegen die Scheibe pochten und die hölzernen Sohlen seiner Pantoffeln auf dem Boden klackerten. Manchmal öffnete er das Fenster, um die Antenne unseres Fernsehers neu auszurichten. Stunden konnte er damit verbringen. Vater gab sich nicht zufrieden mit dem, was er in unserer Wohnung erlebte. Er wollte mehr wissen, ich musste ihm Bericht erstatten, was ich auf dem Weg zum Kindergarten gesehen hatte, was im Kindergarten geschehen war, welche Kindergärtnerinnen sich wie verhielten, welche Kinder andere schlugen und solche Sachen. Nie gab er sich mit der Antwort "schön" zufrieden, wenn er mich fragte: "Und, wie war es heute?" Unstillbar war seine Wissenssucht. Er zwang mich, aufmerksam zu beobachten, jede Kleinigkeit zu beachten, Bagatellen nie gering zu schätzen.

"In den kleinen Dingen liegt die Wahrheit", sagte er, und als ich nicht verstand, las er mir Sherlock Holmes vor. Von den vielen Leichen, den rothaarigen Männern und Professor Moriarty bekam ich Albträume, mein Vater verzichtete schließlich darauf. Dafür erklärte er mir später, wie Nadelspitzen in Schmetterlingskörper zu schieben waren.

Ansonsten wusste ich nicht viel über meinen Vater. Nachdem ich ihm meinen täglichen Bericht erstattete und wir zusammen gegessen hatten, tat jeder seine eigenen Sachen. Mutter hatte mir das mal erklärt.
"Er liebt dich, aber er kann das gerade nicht so gut zeigen. Wenn du ihn fragst, ob er mit dir spielen möchte und er will nicht, dann heißt das nicht, dass er dich nicht liebt. Das musst du wissen. Dein Vater liebt dich über alles."

Also spielte ich allein in meinem Zimmer. Vater sah es nicht gern, wenn ich ging. Die Wohnung verließ ich nur, wenn andere Kinder mich einluden, das kam jedoch selten vor, oder wenn Mutter mit mir einen Spaziergang machte.

Ich glaube nicht, dass mein Vater ein trauriger Mann war. Er weinte nicht und sah nicht unglücklich aus. Glücklich sah er auch nicht aus, aber wie erkennt man schon, ob jemand glücklich ist? Einmal bemalte er meine Zimmerdecke himmelblau und beklebte sie mit Sternen, die er aus einer nachleuchtenden Folie geschnitten hatte. Gemeinsam bestrahlten wir die Sterne mit Taschenlampen, doch sie flackerten nur matt und verloren bald ihr Licht.

Eines Tages meinten die Ärzte, dass Vater in eine Klinik müsse. Meine Mutter behauptete, es wäre wegen seinen Fingern. Doch das glaubte ich nicht. Seit Kurzem trug mein Vater einen Handschuh, der seine verletzte Hand vor den Blicken der anderen verbarg. Die fehlenden Handschuhfinger waren nicht abgeschnitten, sondern hingen schlaff zur Seite. Der Arzt sagte, Vater müsse für mindes­tens drei Monate in die Klinik.

Aus den drei Monaten wurden sechs, und ich kam in die Schule. Als er zu uns zurückkehrte, hatte er sich verändert. Allein lief er vom Bahnhof in die Wohnung, bestand darauf, dass wir ihn nicht abholten. Er nahm mich und Mutter in die Arme und hob uns gleichzeitig in die Luft.
"Ich habe einen Bärenhunger", rief er gut gelaunt und wirbelte uns im Kreis. Nachdem er uns vorsichtig abgesetzt hatte, ging er mit ruhigem Schritt in die Küche. Seine Pantoffeln klackerten nun nicht mehr auf dem Fußboden.

Von da an erschienen die Ärzte seltener. Dafür besuchten uns nun Vaters ehemalige Arbeitskollegen. Sie unterhielten sich mit ihm und boten ihm schließlich an, zurück zur Arbeit zu gehen. Seinen ursprünglichen Beruf konnte er nicht ausführen und auch würde er nur noch einen halben Tag arbeiten können, doch das wäre eine einmalige Möglichkeit. Die Kollegen klopften auf seine Schulter.
"Jemand wie du ...", sagten sie, und mein Vater lachte laut auf.
"Ja ja, jemand wie ich."
Er überlegte zwei Tage. Dann ging er zurück zur Arbeit. Mittags kam er nach Hause, um Essen für mich zu kochen. Viel redete er nicht. Er wollte auch nichts weiter von meinem Tag wissen. Klappernd hantierte er mit den Töpfen, schnitt Gemüse klein, warf Zwiebeln in brodelndes Öl, schälte Kartoffeln, kratzte mit Holzlöffeln in Pfannen, füllte den gläsernen Salzstreuer auf. Immerzu hatte er etwas zu tun. Doch wie er seine verletzte Hand unter einem Handschuh verbarg, verbarg er sich vor mir. Er wurde stiller. Lachte nicht mehr so viel wie in der ersten Zeit nach der Rückkehr aus der Klinik und klopfte stattdessen wieder Rhythmen auf Tischplatten. Zerknüllte Zeitungen sammelten sich im Papierkorb. Oft verschlief er. Wenn ich mittags von der Schule kam, stand er im Schlafanzug am Herd und lächelte mich verlegen an.

Eines Tages entschloss er sich, ein eigenes Zimmer herzurichten. Er wollte sich die Wäschekammer zurechtmachen. Mutter schimpfte, hatte jedoch seinen ernsthaften, mit beharrlicher Stimme vorgetragenen Absichten nichts entgegenzusetzen. Die Kammer war fünf Meter lang, aber nur etwa einen Meter breit, mehr ein Schlauch als ein Raum. Vater räumte Plastikeimer und Bügelbrett, Kisten und Kartons, Staubsauger und ein Dutzend andere Dinge in den Keller. Er strich die Spinnenweben aus den Ecken, legte den Boden mit Plastikplanen aus und begann die Wände weiß zu streichen. Als die Farbe getrocknet war, sprühte er in das fensterlose Zimmer eine zitronenhaltige Flüssigkeit. Später erfuhr ich, dass es ein Mittel war, das Motten tötete. Mir tränten die Augen davon und Vater verbot mir, das Zimmer zu betreten. Er selbst hielt sich während der nächsten Tage einen mit Wasser getränkten Lappen vor den Mund. Meine Mutter meinte, dass Vater als kleiner Junge Insekten gesammelt hatte. Allerdings war die Sammlung bei einem Umzug verloren gegangen. Nur drei Insektenkästen hatte er retten können. Staub klebte an den mit Kratzern überzogenen Scheiben, die Sperrholzplatten am Boden waren morsch. Aber Vater wollte keine neuen Kästen kaufen. Er richtete die alten wieder her. Er besorgte sich stabiles Holz und wechselte die Bodenplatten aus. Mit Pflanzenleim, der Maisstärke enthielt, verklebte er die Ränder neu. Die Kästen selbst legte er mit weißem, unliniertem Papier aus und steckte außen kleine, mit Lindau getränkte Stofffetzen an. Im Lauf der Jahre hatten Museumskäferlarven die Falter angefressen, Staubläuse waren zu dunklem Staub zerfallen, Präpariernadeln gerostet. Licht hatte die Schmetterlingsfarben ausgebleicht. Manche Falter hatten öligen Körpertalg abgesondert, der die Schuppen auf den Flügeln, die feinen Haare und dünnen Körper durchfettete. Diese Falter mussten für wenige Tage in Benzin eingelegt werden, um das Öl zu entfernen. Mein Vater machte sich an die Arbeit und begann, die Schmetterlinge, die er als Junge gefangen hatte, zu restaurieren.

Nach einigen Wochen war er fertig. Jedenfalls glaubten wir das. Denn er ließ Mutter und mich anfangs nicht sein Zimmer betreten. Er meinte, er brauche die Ruhe, die ihn dort umgebe. Bevor mein Vater zur Arbeit ging, vergewisserte er sich, dass die Tür abgesperrt war. Nur mit ihm gemeinsam durfte man das Zimmer betreten. Widerwillig brummte er, wenn ich ihn darum bat. Wenn er dennoch die Tür aufschloss, roch ich wieder den leichten Zitronengeruch. Vater nahm mich an die Hand und meinte, dass ich nichts anfassen dürfe. Das sagte er jedes Mal, und jedes Mal nickte ich folgsam. Ich stand gern vor den Schmetterlingskästen. Stockend las ich die Etiketten, auf die mit sorgfältiger Schrift der Name des Falters, das Datum des Fanges und der Name des Fängers geschrieben standen. Als Fundort hatte Vater stets "Hasenheide" vermerkt. Die Schwalbenschwänze und Tagpfauenaugen, Landkärtchen und Trauermäntel, die Schillerfalter und Rapsweißlinge, die Zitronenfalter und großen Ochsenaugen, Windenschwärmer und Perlmutterfalter summten in meinen Ohren. Ich versuchte mir vorzustellen, wie sie zu ihren Namen gekommen waren, wie mein Vater sie als kleiner Junge gefangen hatte. Schmetterlinge haben keine Augen. Sie sind ganz Farbe. Auf Messingnadeln gesteckt hoffen sie, ihren Glanz bewahren zu können. Vorsichtig klopfte ich an die Scheiben, hauchte mit meinem Atem Nebel darauf, während mein Vater Geschichten über die Schmetterlinge erzählte. Manchmal öffnete er eine Schublade und griff mit seiner gesunden Hand nach einem Glas, einem Wattebausch oder einer Spritze. Dann setzten wir uns auf seinen Stuhl, ich auf seinen Schoß, und er erklärte mir, wie Schmetterlinge zu töten waren, wie man sie präparierte, um sie für lange Zeit haltbar zu machen. Mir schien, als würde er mich brauchen, wie ich neben ihm stand, wie ich ihn nah bei mir spürte, als wäre ich ein unerlässlicher Grund dieser Schmetterlingssammlung, als würde er mir vertrauen, als wäre ich wichtig, für alles, was er tat.

Doch die meiste Zeit befand er sich allein in seinem Zimmer. In der Mitte des Raumes stand ein Stuhl. Der Stuhl war auf die drei Insektenkästen gerichtet, die wie ein Triptychon an der Wand hingen. Ansonsten befand sich nichts in diesem Zimmer. Der Stuhl, die Schmetterlinge, die schneeweißen Wände und mein Vater. Meine Mutter und ich, wir wussten nicht, was er tat. Konnten uns nur vorstellen, wie er die Wand anstarrte, die Schmetterlinge, wie er die Etiketten vertauschte, sie neu beschriftete. Oft ging er nach dem Mittagessen in das Schmetterlingszimmer und erschien erst am Abend wieder. Mutter betrat, soweit ich mich erinnern kann, niemals das Schmetterlingszimmer. Sie ekelte sich vor dem "toten Ungeziefer". So nannte sie Vaters Schmetterlinge. Außerdem verabscheute sie den Geruch des Desinfektionsmittels. Manchmal stand ich vor der verschlossenen Tür und lauschte. Nichts war zu hören, kein Atmen, kein Stuhlverrücken, kein Klackern der Holzsohlen von Pantoffeln. Es schien, als wäre er nicht in diesem Raum, so still war mein Vater. Wenn ich klopfte, weil ich bei ihm sein wollte, reagierte er nicht, kam abends aus seinem Zimmer, als hätte er mein Klopfen nicht gehört. Dann sah er meinen Blick nicht, der fragte, warum ich nicht für ihn war, außerhalb des Schmetterlingszimmers.

Als ich in die zweite Klasse kam, zogen wir in eine andere Stadt. Man hatte meiner Mutter eine neue Arbeit angeboten. Sie war Architektin.
"Wir sollten das machen", meinte meine Mutter.
Auf dem alten Wohnzimmertisch hatte sie Prospekte ausgebreitet. Mein Vater saß auf dem Stuhl und starrte desinteressiert auf die bunten Bilder. Er murmelte etwas, wollte aber, dass man ihn nicht verstand.
"Wir ziehen in eine neue Wohnung."
Ihre Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass unsere Zukunft glänzend war.
"Du kommst in die Schule und lernst neue Freunde kennen."
Und meine Mutter kramte ein Prospekt von einer Schule aus dem Bilderstapel hervor.
"Das wird wunderbar."
Mein Vater grummelte. Ich betrachtete eine Karte. Meine Mutter lachte.

Also gingen wir weg.

Die Stadt, in die wir zogen, lag an einem Fluss, der seine Farbe wöchentlich wechselte, je nachdem welche Färbemittel die zahlreichen Fabriken gerade hineinpumpten. Es war eine junge Stadt, eine Stadt, die sich danach sehnte, schnell zu wachsen. Man stellte meine Mutter in einem Büro ein. Voller Begeisterung widmete sie sich ihrer neuen Aufgabe. Schnell machte sie sich unentbehrlich. Ihr ganzes Glück war es, die Stadt zu zeichnen. Straßenzüge, die sie gemeinsam mit ihren Arbeitskollegen am Skizzenbrett erschaffen hatte, lief sie nach der Fertigstellung mit großen Augen ab. Manchmal nahm meine Mutter mich auf diese Spaziergänge mit. Dann fasste sie meine Hand, um sie gleich darauf wieder loszulassen, damit sie auf Baugerüs­te deuten konnte, auf Häuser, Balkone, Torbögen, Straßenläufe und Kreuzungen. Sie blieb vor den Fenstern stehen und versuchte, einen Blick in die Wohnungen zu erhaschen.
"Siehst du, da wohnen jetzt Familien."

Und sie erzählte, wie und warum sie dieses Haus so und nicht anders gezeichnet hatte. Bisweilen drückte sie willkürlich auf Klingelknöpfe, um sich an Stimmen, die gedämpft durch die Gegensprechanlagen drangen, zu freuen. Die Wangen meiner Mutter glänzten. Mit den Jahren wurden unsere Gänge seltener, bis sie schließlich ausblieben. Meine Mutter verbrachte ihre Zeit mehr und mehr im Büro. Anfangs plagten sie Gewissensbisse. Doch die Zeit schliff ihr Gewissen ab.

Die neue Wohnung war klein und bot keinen Platz für ein neues Schmetterlingszimmer. Die Insektenkästen hatte mein Vater in Kartons gepackt und in den Keller gestellt. Angeschaut hat er sie nie, in der neuen Stadt. Meine Mutter verschaffte ihm Arbeit in ihrem Büro. Er betrieb sie mit einem ungesunden, harten Elan, einem Elan, der nicht zu seiner Art passte, der andere zufrieden stellen sollte, nicht ihn. Er vergaß, den Handschuh zu tragen, vergaß mein Mittagessen zu kochen, wahrscheinlich vergaß er auch die Schmetterlingssammlung im Keller. Er lachte wieder viel. Er nahm uns in die Arme, genauso wie damals, als er aus der Klinik zurückkehrte. Neue Freunde kamen vorbei. Meine Mutter freute das. Ihr Engagement und das meines Vaters wurden in der Stadt wohlwollend zur Kenntnis genommen. Gleiche trafen auf Gleiche, wenn meine Eltern abends die Zeit fanden, andere Paare zu besuchen. Die junge Stadt zog es mit der Geschwindigkeit eines Hundertmeterläufers in die Zukunft, und meine Eltern rannten mit. Ihre Probleme schienen gelöst. Für sie war es einfach, schließlich waren sie auch zu zweit. Ich hingegen hatte niemanden, mit dem ich auf gleicher Augenhöhe sprechen konnte, niemanden, für den ich mein Schmetterlingszimmer verlassen würde. Vielleicht ahnte meine Mutter etwas von meinen Gedanken. Jedenfalls verhielt sie sich mir gegenüber sehr vorsichtig, fast entschuldigend. Doch da sie immer seltener in der Wohnung war, nahm ich das hin. Andere lobten mich.
"Du bist ein liebes Mädchen, so still, du weinst nie und bist nie aufgedreht."

Seltsam, dass niemand deshalb Angst empfand. Ich weinte nie, ich lachte selten und schlief viel. Ich war ein unheimliches Kind. Aber wer sollte das schon zur Kenntnis nehmen, in diesem neuen Leben? Ich fand mich gut darin zurecht, hauptsächlich, weil ich nicht daran teilnahm. Gewiss, an meiner Anwesenheit bestand kein Zweifel: In den stickigen Klassenzimmern lernte ich Buchstaben schön zu schreiben, in den weit in die Tiefe laufenden Schulgängen verirrte ich mich kaum, im Sportunterricht stemmte ich Medizinbälle in die Höhe, ich sammelte Kastanien im Herbst und im Frühjahr Löwenzahn, füllte kleine Schälchen mit Wasser, um sie den Igeln ins Laub zu stellen, watete mit Gummistiefeln in Pfützen, blies Luftballons auf, klebte Stoffreste zusammen, warf Farbe auf Papier, davon überzeugt, ein Bild zu malen. Ich tat all diese Dinge, von denen man, ohne großartig darüber nachzudenken, annahm, dass Kinder sie tun. Und ich war unter ihnen, unter den anderen Kindern, berührte in manchen Momenten zufällig die schmutzigen Ärmel ihrer himmelblauen Anoraks, ich ging durch Gruppen von anderen Kindern hindurch, und sie rempelten mich an, wie sie es mit jedem Kind taten. Doch ich war unsichtbar, jemand, der sich tarnte und wegduckte, der das Verschleiern perfektionierte. Ich wollte nicht gesehen werden. Ich wollte dabei sein, in das Gelächter, das Stimmengewirr, die geworfenen Murmeln eintauchen und mich darin verlieren, ohne einen eigenen Anteil tragen zu müssen. Es war so leicht, durchzukommen: Die Schule gehorchte Regeln, und die Regeln besagten, dass jedes Kind durchkommen musste.

Denn in einem war ich mir sicher: Keiner durfte von meinem Geheimnis erfahren. Das wäre das Ende gewesen. Vielleicht hätten sie mir nicht geglaubt. Das schien sogar sehr wahrscheinlich; warum sollten sie auch annehmen, dass so etwas möglich sei. Und selbst wenn? Warum sollte dies ausgerechnet mir gelingen? Mittlerweile hatte ich bemerkt, dass das Zeitanhalten nicht zu den gewöhnlichen Talenten der Menschen gehörte. Ich hatte sie beobachtet und bei niemandem hatte ich ähnliche Fähigkeiten entde­cken können. In Gesprächen mit Schulkameraden habe ich manchmal Andeutungen gemacht, doch sie verstanden nicht oder lachten. Deshalb war ich mir sicher, dass keiner von mir wissen durfte. Sie hätten sonst ein Auge auf mich geworfen, sich gekümmert, hätten Absonderlichkeiten in mir vermutet, mir ihre Aufmerksamkeit geschenkt, mich in Kurse gesteckt, in Arbeitsgemeinschaften, hätten Ärzte um Rat gebeten, die mir Spritzen in die Arme gesteckt hätten, und ich wäre an Krankenhausbetten gefesselt gewesen, neben glatzköpfigen Kindern, die mich mit traurigen Augen angestarrt hätten.

Ich mache ihnen keinen Vorwurf. So sind sie eben. Beschützt von ihrer Ahnungslosigkeit. Stehen in der Ecke, beobachten den Schulhof, paffen Zigaretten, greifen nach vorbeieilenden Kindern wie ein Kran nach Betonplatten und wiegen sich in Sicherheit. Sich und die Kinder und wissen doch nichts. Ich lehnte mich gegen Mauern, meist in die Ecken des Schulhofes, in die ihre Blicke kaum fielen. Sah die Kinder Karten tauschen, ihre kleinen, läuseverseuchten, hochroten Köpfe zusammenstecken, mit fiependen Stimmen um sich schlagend, sah sie rennen, rennen, rennen. Kinder rennen immer. Jeder Weg ist eine Sandbahn für sie. Sie keuchen, sie hasten von Punkt A zu Punkt B und wieder zurück, sie schulen ihre Beinmuskulatur, drillen ihren Bewegungsdrang, kosten ihn aus, bis sie verbraucht zu Boden sinken. Sie lachen, sie kreischen, sie fühlen sich wohl mit ihren Beinen, und je älter sie werden, desto bedächtiger werden ihre Bewegungen. Rennen ist eine vorübergehende Krankheit, sie erlischt lautlos in den Jahren.

Ich hatte gelernt, mich zu gedulden. Ich lehne an der Mauer, fühle den Putz in meinem Rücken brechen und warte ab. Sehe den Kindern zu. Warte auf das Spiel, das großartigste Spiel von allen. Es ist wie einschlafen. Ich lege mich in ein Bett, weiß, dass nun der Zeitpunkt zum Schlafen gekommen ist. Schließe die Augen, entspanne mich, ziehe die Decke über die Schultern. Ich denke an etwas. Steinhaut. Der Tag spinnt sich zu Fäden, knüpft ein Netz, ich falle hinein. Schlaf trödelt um die Ecke und nimmt mich, nach Stunden, in die Arme. Wenn ich die Augen öffne, ist die Zeit gerissen. Steht still. Der Putz hängt starr in der Luft wie die Zweige der Eiche auf dem Schulhof. Kein Wind mehr. Ich laufe durch die Kinder. Sie rennen, sie fallen, sie prügeln, sie treten, sie spielen, werfen Sand, hocken im Sand, springen von Hügeln, schmeißen Steine, reden, weinen, lachen, werden ermahnt. Der Schulhof zu meinen Füßen ist eine Zeichnung, in der ich radieren kann oder neu zeichnen. Ich betrachte die Spielkarten, die sie tauschen, die Lippen, in die sie beißen, um die Anspannung, die aus ihnen bricht, zu bändigen. Sie stehen sich gegenüber, ihre winzigen Hände um Kartenstapel geklammert, in der Hoffnung, einen vorteilhaften Handel zu tätigen. Ich löse die Karten aus ihren Händen, ordne sie neu, vermische sie mit anderen Stapeln, knicke Ecken, werfe manche zu Boden. Vor geschwungene Schienbeine stelle ich hochkant Ziegelsteine, in geballte Fäuste stecke ich Gänseblümchen, in die Sandgrube vor der Rutsche lege ich Plastikbälle. Schulranzen kippe ich aus, aus Lehrerinnenhänden nehme ich die Zigaretten, tausche den Tabak mit Hundekot, verstecke ungeöffnete Zigarettenschachteln in den Jackentaschen von Erstklässern, binde Schnürsenkel zusammen, schmiere Klettergerüste mit Butter ein. Ich bevorzuge niemanden, ich benachteilige niemanden. Ich stelle Schmerz neben Freude, Gelächter neben Schadenfreude, Scham gegen Macht. Ich habe Zeit. Ich bin die Zeit. Und wenn ich die Zeit löse, wenn sie aus meiner Hand gleitet, gehe ich zurück zur Mauer, in den hinteren Teil des Schulhofes, den Teil ohne Blicke, lehne mich gegen den Putz und die Zeit fährt fort. Augenblicklich stürzt die kleine Welt in ein bezauberndes Chaos, Stimmen gellen, Körper fallen, Münder lachen und ich, als endgültiger Scherz der Zeit, ich sinke in eine tiefe, traumlose Ohnmacht, ohne zu sehen, ohne etwas von dem zu sehen, was ich tat.

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