Bürgerkriegsähnliche Zustände in Kiew Die ukrainische Opposition legt eigene Lazarette an

Kiew · In einem besetzten Gebäude in Kiew hat die ukrainische Opposition ein provisorisches Lazarett eingerichtet. Hier werden verletzte Demonstranten behandelt. In den staatlichen Krankenhäusern müssen Demonstranten fürchten, von der Polizei entführt und misshandelt zu werden.

 Sanitäter führen einen Verletzten aus der Gefahrenzone.

Sanitäter führen einen Verletzten aus der Gefahrenzone.

Foto: dpa, Alexey Furman

Der Mann taumelt über den Flur, seine Jacke ist am Rücken von einem Einschuss zerfetzt, er zeigt auf seine Ohren. "Granate, ich höre nichts", sagt er. Grigori kommt direkt aus der Gruschewski-Straße. Dort liefern sich militante Demonstranten Straßenschlachten mit der Polizei. Der gedrungene Mitfünfziger ist verletzt, er steht unter Schock, er müsste sich dringend ausruhen. Doch er murmelt nur: "Ich will zurück auf die Barrikaden." Die Krankenschwester Ljudmila lächelt. "Der war gestern schon hier und kämpft immer weiter. Lasst ihn ziehen."

Im dritten Stock des von der Opposition besetzten Gewerkschaftshauses am Kiewer Unabhängigkeitsplatz haben Ärzte und Krankenschwestern einen medizinischen Versorgungspunkt eingerichtet. Immer heftiger werden die Straßenkämpfe, immer mehr verletzte Demonstranten lassen sich hier behandeln. Sie haben Angst, sich in ein offizielles Krankenhaus zu begeben. Dort laufen sie Gefahr, von der Bereitschaftspolizei "Berkut" entführt und misshandelt zu werden.

Deshalb hat die Opposition den medizinischen Versorgungspunkt zu einem provisorischen Lazarett ausgebaut. Auf den Fluren des Gewerkschaftshauses türmen sich gespendetes Verbandszeug und Medikamente. Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger haben sich als Freiwillige gemeldet, um hier Dienst zu tun. Es gibt mehrere Behandlungszimmer und sogar einen improvisierten Operationsraum. Überall warten Verletzte. Manche husten von dem Tränengas, das die Polizei einsetzt. Andere haben Verletzungen und riesige Hämatome im Gesicht.

In dem Chaos und Gewusel behält die junge Ärztin Irina (23) die Nerven. Sie ist schmächtig, hat große braune Augen und trägt auf der Stirn eine Bergarbeiter-Lampe mit Gummiband, weil das Licht für die Untersuchungen nicht reicht. "Ich bin seit gestern morgen hier im Dienst und habe nur zwei Stunden geschlafen", erzählt die Medizinerin aus Dnepropetrowsk. Sie hat ihr Studium gerade abgeschlossen, arbeitet als Ärztin im Praktikum und will aus Angst vor Repressionen ihren vollen Namen nicht nennen. "Wir desinfizieren Wunden, kümmern uns um Verbrennungen, Quetschungen, Splitterwunden — alle möglichen Folgen der Krach- und Blendgranaten, die die Polizei einsetzt." An die Ärzte in den staatlichen Krankenhäusern sei ein Befehl ergangen: Fälle von Verletzungen, die bei den Demonstranten üblich seien, müssten der Polizei gemeldet werden. "Die Polizisten holen dann selbst schwer verletzte Patienten aus dem Krankenhaus und sie ins Untersuchungsgefängnis."

Angst vor Entführung und Misshandlung

Es kann noch viel schlimmer kommen. Das zeigt das Schicksal der beiden oppositionellen Aktivisten Juri Werbizki und Igor Luzenko. Vor zwei Tagen hatte Luzenko den am Auge verletzten Werbizki ins Krankenhaus gefahren. Noch auf der Station wurden beide von Unbekannten entführt und stundenlang in einer Garage misshandelt. Luzenko wurde schließlich von seinen Peinigern in einem Wald ausgesetzt und konnte Hilfe holen. Er machte sich große Sorgen um Werbizki, den die Unbekannten wegen seiner Herkunft aus der Westukraine besonders gequält hatten. Inzwischen wurde die Leiche des Aktivisten in einem Wald in der Nähe des Flughafens gefunden — er war bei Temperaturen um minus 15 Grad erfroren. Igor Luzenko ist überzeugt, dass es sich bei den Tätern um Polizisten der "Berkut"-Bereitschaftspolizei handelte. "Die gingen sehr gezielt vor und wussten, wie man so was macht", erzählte er nach seiner Freilassung.

Seit diesem Vorfall patrouillieren Oppositionelle vor den Kiewer Krankenhäusern, um die Polizei am Eindringen zu hindern. Aber das Vertrauen der Demonstranten zu den staatlichen medizinischen Einrichtungen ist hin. "Wir haben hier Patienten, die schreien: Lieber sterben als ins Krankenhaus", sagt die Ärztin Irina. Trotzdem müsse man bei schweren Fällen den Krankenwagen rufen, wenn der Verletzte in dem provisorischen Lazarett nicht behandelt werden könne. Ihr Kollege Oleg (53) hat mehr als zwanzig Jahre Erfahrung als Notarzt. "Wenn die Regierung erklärt, die Polizei setze keine Schusswaffen ein, dann lügt sie", sagt er. Die Polizei feuere Gummikugeln und Gummischrot, ziele dabei direkt auf die Köpfe und die Augen der Demonstranten. "Dabei besagt das Gesetz eindeutig, dass die Beamten beim Einsatz dieser Waffen einen Mindestabstand von 40 Metern einhalten müssen und auf die Beine zielen sollen, um schwere Verletzungen auszuschließen", so der Notarzt. Alles andere sei ein Verbrechen.

Kaum hat er es gesagt, laufen die Sanitäter wieder mit ihren olivgrünen Militärtragen nach draußen. Die Kämpfe zwischen den Demonstranten und der Polizei haben schon wieder neue Opfer gefordert.


(RP)
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