Pressestimmen Streit um Ministerauftritte – "Man sollte Erdogans Spiel nicht mitmachen"
Der Streit um türkische Ministerauftritte und die damit einhergehende verbale Eskalation zwischen den Niederlanden und der Türkei ist von vielen Zeitungen im In- und Ausland kommentiert worden. Ein Blick in die Meinungsspalten.
Rheinische Post: "Jeder NS-Vorwurf wegen vereitelter Türkei-Auftritte weist eigentlich auf die ausgesetzten Rechte im eigenen Land hin. Dass so viele Türkischstämmige in den Niederlanden und in Deutschland das nicht sehen, sondern auf Knopfdruck den Protest auf die Straße tragen, macht Solidarität der Demokraten umso dringender. (...) Zudem verweist die jüngste Eskalation auf Grundentscheidungen zur Integration. Wenn immer mehr Unionspolitiker den Doppelpass in Frage stellen, ist das mehr als ein Augenblicks-Reflex. Und so sollte das weitere Vorgehen auch aus mehr bestehen als 'Finger weg' oder 'Weg damit'. Nötig ist eine ideologiefreie Bestandsaufnahme: Hat der Doppelpass das gebracht, was man sich erhoffte? Wenn nicht, werden neue Überlegungen zur Pflicht."
de Volkskrant (Niederlande): "Türkischer Wahlkampf in den Niederlanden war bereits vor diesem Wochenende schwierig. Geht es doch um ein türkisches Referendum, durch das Rechtsstaat und Demokratie noch mehr in Bedrängnis zu kommen drohen.(...) Besonders schlecht ist, dass (der türkische Außenminister) Cavusoglu von 'meinen Staatsbürgern' spricht, derweil die Niederlande versuchen, Menschen mit türkischen Wurzeln in ihre Gesellschaft zu integrieren. Aus reinem Pragmatismus ist das Kommen von Cavusoglu nicht sofort verboten worden. Zurecht wurde befürchtet, dass dies den türkischen Nationalismus nur weiter schüren würde. Das dient nicht den Interessen der Niederlande."
The Times (Großbritannien): "Dem konservativen Ministerpräsidenten der Niederlande Mark Rutte ging es wenige Tage vor entscheidenden Wahlen zweifellos darum, die Unterstützung für den rechtsextremen Politiker und Chef der Freiheitspartei Geert Wilders einzudämmen. Ihre Parteien liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Bedauerlicherweise könnte Rutte aber gerade dadurch, dass er hart gegen die Türken vorging, der Wahlkampagne von Wilders ungewollt Glaubwürdigkeit verliehen haben. Das wäre genau das, was die Niederlande und Europa absolut nicht brauchen."
Tages-Anzeiger (Schweiz): "Erdogan setzt darauf, dass der Eklat seine nationalistischen Anhänger vor dem Referendum vom 16. April über die Einführung eines Präsidialsystems mobilisiert. Gerade in der Diaspora leben viele Sympathisanten des autoritären Präsidenten. Allein in den Niederlanden sind es 400.000 Türken beziehungsweise Doppelbürger.
Nach dem Auftrittsverbot kann sich Erdogan als Opfer inszenieren, als Einzelkämpfer, der es mit den Europäern aufnimmt. Doch auch dem niederländischen Regierungschef Mark Rutte könnte die Kollision nutzen. Der Rechtsliberale hat gegenüber Erdogan klare Kanten gezeigt und dürfte damit bei den Parlamentswahlen nächsten Mittwoch punkten."
Politiken (Dänemark): "Die türkische Regierung mit Präsident Recep Tayyip Erdogan an der Spitze hat in den vergangenen Tagen das Klischee des türkischen Verfolgungswahns voll erfüllt. Leider ist das nicht zum Lachen. Im Gegenteil ist es zutiefst besorgniserregend, wenn die Türkei Diplomatie betreibt, indem sie ihre Partner Nazis nennt oder türkische Minister in bestimmte EU-Länder schmuggelt, nachdem sie ausdrücklich gebeten wurden, sich daraus fernzuhalten."
Quest-France (Frankreich): "Sicherlich helfen die türkische Frage und die Ängste, die sie schürt, Europas Rechtsextremen. Aber man muss einen kühlen Kopf bewahren. Begräbt nicht (der türkische Staatschef Recep Tayyip) Erdogan selbst jede Aussicht auf einen EU-Beitritt seines Landes, indem er der Türkei eine autoritäre Verfassung gibt?"
Kommersant (Russland): "Vor der Parlamentswahl ist zwischen den Niederlanden und der Türkei ein Streit entbrannt, der nicht nur den Ausgang des Wahlkampfs in einem EU-Gründungsmitglied entscheiden könnte. Er könnte auch die Lage in anderen europäischen Staaten mit einer starken türkischen Diaspora verschärfen. (...) Der Skandal mit der Türkei spielt der niederländischen Partei der Freiheit, die an die Macht strebt, und anderen ultrarechten Kräften in Europa in die Hände. Zugleich bietet die harte Haltung der niederländischen Regierung eine Chance, den Radikalen die Initiative zu entreißen."
La Repubblica (Italien): "Merkel hat auf die 'Nazi'-Vorwürfe des Sultans mit Sätzen geantwortet, die es nur schwer in die Geschichtsbücher schaffen werden. Die Vorwürfe des türkischen Präsidenten seien traurig und unangebracht, säuselte sie. Im Vorfeld einer wichtigen Reise am Dienstag nach Washington, wo Merkel zum ersten Mal Donald Trump begegnen wird, ist es legitim, sich zu fragen, wie effizient Merkels abwartende Diplomatie in Zeiten des neuen Despotismus und der Muskelspielchen von noch so verschiedenen Politikern sein kann. (...)"
Lidove noviny (Tschechien): "Doch jetzt gibt es einen diplomatischen Krieg zwischen der Türkei und den Niederlanden, einem Land, das keine historischen Ressentiments gegen die Türkei hat. Dennoch wurde die türkische Familienministerin Sayan Kaya abgeschoben - ein in der EU beispielloser Fall. Und aus Ankara tönen Nazi-Vergleiche. Ist das ein weiterer Schritt hin zu einem diplomatischen Krieg der Türkei mit der ganzen EU? Ist das Abkommen mit Ankara über die Rückführung illegaler Migranten in Gefahr?"
Duma (Bulgarien): "Hat (der türkische Präsident Recep Tayyip) Erdogan denn diese Wählerstimmen so bitter nötig? Kaum. Er ist sich seines Sieges sicher. Seitdem er aber an der Macht ist – als Regierungschef und auch als Präsident –, zeigt Erdogan hartnäckig, dass Ankara seine Staatsbürger, die auf dem Alten Kontinent zerstreut sind, nicht vergisst. (.) Alles deutet darauf hin, dass der türkische Präsident zielstrebig einen Zusammenstoß und die Eskalation der Spannung sucht.
Dafür kann es nur eine Erklärung geben: Er versucht verzweifelt, die Türken davon zu überzeugen, dass Europa ein Feind ist."
Pravda (Slowakei): "Die Nazi- und Faschismus-Vergleiche gegen Deutschland und die Niederlande sind eine absolute Respektlosigkeit gegenüber den Opfern des Faschismus. Und sie sind lächerlich angesichts dessen, wie viele Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland und den Niederlanden ein ruhiges Leben führen. Die Türkei muss die Emotionen zügeln. Aber auch Europa ist nicht ohne Schuld. Stets hat man der Türkei nur eine vage Perspektive geboten."
Die Welt: "Wahlkämpfe sind Reizverdichtungen in Demokratien. Wie gefährlich es ist, wenn zwei durch den politischen Wettbewerb gereizte Nationen aneinander geraten, konnte an diesem Wochenende studiert werden. Wenn aber Diplomatie durch öffentliche Demütigung ersetzt wird, wenn also eine türkische Ministerin von Dutzenden Polizisten aufgehalten wird, dann ist das unter den schlechten Optionen die schlechteste. Sie bestätigt die Rechtsnationalen, die mit einem verzerrten Bild vom Islam Wahlkampf machen. Und sie bestätigt Erdogan, der mit mit einem verzerrten Bild von Europa Stimmen für sein Verfassungsreferendum fischt."
Süddeutsche Zeitung: "Die EU kann die Abschaffung der Demokratie in der Türkei nicht verhindern. Sie muss aber darauf antworten. Ein vorläufiges, wohl auch formelles, Ende der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist unausweichlich."
Tagesspiegel: "Wer ein Interesse daran hat, Beziehungen nicht eskalieren zu lassen, dem hilft es, die Position des anderen verstehen zu wollen. Das heißt nicht, sie gutheißen zu müssen. Im Fall der Türkei stachelt jedoch eine kompromisslose Haltung eben eine Regierungsmannschaft auf, die sich allzu oft zurückgesetzt gefühlt hat. Und weil sich Erdogan so gut mit der harten Hand auskennt, nimmt er jeden Angriff auf und an. Es wird ihm nützen. Und den Beziehungen schaden."
Frankfurter Rundschau: "Die Falle des türkischen Staatspräsidenten Erdogan war so offensichtlich, dass nur Ignoranten hineintappen konnten. Erdogan benötigt dringend ein Thema für seinen lahmenden Wahlkampf zum Präsidialsystem. (...) EU-Regierungen dürfen den Irrsinn nicht mitmachen. Sie tragen Verantwortung für die türkischstämmigen Mitbürger. Wenn man diese in die Eskalation laufen lässt, setzt man sie möglichen Angriffen aus und gefährdet die innere Sicherheit. Aus dem Eklat lässt sich lernen, dass die EU eine Strategie gegen die Provokationen aus Ankara braucht. Man sollte Erdogans Spiel nicht mitmachen und die Politiker aus der Türkei reden lassen."
Stuttgarter Zeitung: "Die Schimpftiraden von Präsident Erdogan und seiner Ministerriege werden immer heftiger. Sie zeugen von einer völlig verschobenen, historisch blinden Weltwahrnehmung in Ankara. Wer ausgerechnet die Holländer, die selbst Opfer des Hitler-Terrors waren, wegen der Nicht-Erlaubnis von Wahlkampfveranstaltungen eines ausländischen Regierungsmitglieds als 'Nachfahren der Nazis' und 'Faschisten' verunglimpft, beleidigt ein ganzes Volk und macht sich als Gesprächspartner unmöglich."
Leipziger Volkszeitung: "Natürlich ist es schwer erträglich, wenn die Türkei auf europäischem Boden für ein Präsidialsystem auf Stimmenfang geht, das mit unserem Verständnis von Demokratie nichts zu tun hat. Aber das darf man nicht dadurch torpedieren, dass man selbst zu Methoden greift, die nicht akzeptabel sind. Die niederländische Polizei hat beispielsweise nicht das Recht, türkischen Regierungsmitgliedern den Zutritt zu diplomatischen Vertretungen der Türkei auf niederländischem Boden zu verweigern, denn die Konsulate und Botschaften haben einen exterritorialen Status. (...) Die Eskalation in den Niederlanden setzt den innenpolitisch oft kritisierten Kurs Berlins in ein neues Licht: Es ist besser, sich nicht provozieren zu lassen."
Weser-Kurier: "Ob die niederländische Regierung die Kundgebungen von türkischen Ministern verhindert hätte, wenn am Mittwoch zwischen Groningen und Maastricht nicht zufällig Parlamentswahlen wären, darf bezweifelt werden. Vermutlich hätte der sonst so besonnene Ministerpräsident Rutte schon einen Kompromiss gefunden. Die Fähigkeit, pragmatische Lösungen zu finden, hat das Nachbarland in der Vergangenheit stets ausgezeichnet. Das ist vorbei. Mit dem kalten Atem des Rechtspopulisten Wilders im Nacken lässt sich selbst Den Haag zu undiplomatischem Handeln hinreißen."
Straubinger Tagblatt: "Innerhalb von Stunden ist der Streit zwischen der Türkei und den Niederlanden eskaliert und hat sich zu einem diplomatischen Konflikt unter Nato-Partnern ausgeweitet, der in der jüngeren Geschichte seinesgleichen sucht. Wie konnte das bloß passieren? Ganz einfach: Weil dem türkischen Präsidenten Erdogan die Zuspitzung ebenso gelegen kommt wie dem niederländischen Ministerpräsidenten Rutte. Beide hoffen, mit ihrer Härte ihre Wähler zu beeindrucken."