Virologin Melanie Brinkmann „Es wird durch Corona immer wieder Arbeitsausfälle geben“

Interview | Düsseldorf · Karneval und die kalte Jahreszeit haben die Corona-Infektionszahlen wieder hochschnellen lassen. Virologin Melanie Brinkmann warnt vor Sorglosigkeit und benennt Fehler.

 Die Virologin Melanie Brinkmann bei einer Veranstaltung in Berlin.

Die Virologin Melanie Brinkmann bei einer Veranstaltung in Berlin.

Foto: Thomas Trutschel / dpa

Vor genau drei Jahren wurde erstmals ein corona-infiziertes Paar aus dem Kreis Heinsberg mit der neuartigen Atemwegskrankheit Covid-19 in die Düsseldorfer Uniklinik eingeliefert – der sichtbare Beginn der verheerenden Corona-Pandemie, die die Welt seit Anfang 2020 in Atem hielt. Aus Anlass des Jahrestags hat unsere Redaktion die Braunschweiger Virologin Melanie Brinkmann befragt, die während dieser Zeit die Bundesregierung beraten hat und einer breiten Öffentlichkeit wiederholt die Gefahren und die Heimtücke dieser Infektionskrankheit erklärt hat.

Corona NRW:  So hat sich das Virus seit Beginn ausgebreitet - 2020 bis 2023
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Foto: dpa/Jens Büttner

Vor drei Jahren brach Corona aus, die Welt erlebt seitdem eine Pandemie wie nie zuvor. Rechnen Sie mit einer neuen Infektionswelle nach diesem Karneval?

Brinkmann Davon gehe ich aus. Wir wissen ja, dass sich Sars-Cov-2 über die Luft verbreiten kann, und wenn in Innenräumen kräftig gefeiert wird, hat das Virus leichtes Spiel. Es wird nicht nur zu einem Anstieg von Infektionen kommen, wir werden auch vermehrt Hospitalisierungen sehen, denn nicht jeder ist optimal geschützt. Aber wer dreimal geimpft ist, idealerweise auch schon einmal mit dem auf Omikron angepassten Impfstoff, hat ein geringes Risiko für einen schweren Verlauf. Wir stehen dem Virus ganz anders gegenüber als noch vor zwei Jahren, als um diese Zeit die Impfung der älteren Bevölkerung gerade erst anlief.

War es ein Fehler, Karneval ohne Auflagen zu erlauben?

Brinkmann Das Virus stellt noch immer eine Herausforderung dar, aber es hat den großen Schrecken verloren. Darum war es richtig, die Maßnahmen zu lockern. Doch klar ist: Es wird durch Sars-Cov-2 immer wieder Arbeitsausfälle geben, das betrifft alle Bereiche unserer Gesellschaft.

Wenn wir zurückschauen: Wie gut war das deutsche Corona-Management in den drei Jahren? Was ist gut gelaufen?

Brinkmann Deutschland ist im Vergleich mit vielen anderen Ländern ein Schlaraffenland, was das Gesundheitssystem angeht. Im Vergleich zu den USA stehen wir viel besser da, hier haben alle Zugang zu medizinischen Behandlungen. Auch haben die Krankenhäuser und ihr Personal sich schnell an die Krise angepasst. Aber durch nur kurze Ruhepausen zwischen den Wellen wurde das System an seine Grenzen gebracht. Besonders zu Zeiten der Delta-Welle Anfang 2021 – da waren die Intensivkapazitäten kurz vor der Überlastungsgrenze.

Was waren die die größten Fehler?

Brinkmann Das größte Problem war meiner Meinung nach die Kommunikation. Es gab kein klares Ziel, keine stringente Strategie, außer das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Im Sommer 2020, nach der ersten Welle, war die Hoffnung groß, dass der Spuk vorbei ist – doch das war ein Fehlschluss. Es wurde in dieser Zeit zu wenig unternommen, um sich auf den Herbst vorzubereiten – und selbst als sehr deutliche Warnungen ausgesprochen wurden, wurde nur zögerlich gehandelt. Selbst als klar erkennbar war, dass die Infektionszahlen im Herbst 2020 exponentiell anstiegen. Es gibt eine wichtige Regel beim Pandemiemanagement: Wer zu spät handelt, verliert die Kontrolle. Handle früh und entschieden. Das ist wie bei der Brandbekämpfung – brennt es erst lichterloh, ist der Schaden immens. Das bedeutet nicht nur viele Tote, sondern auch, dass es lange braucht, um das Haus zu löschen und wieder aufzubauen. Statt im Herbst 2020 früh und entschieden zu handeln, haben wir diskutiert, ob überhaupt gehandelt werden muss. Dadurch haben wir wertvolle Zeit verloren.

War es richtig, die Schulen immer wieder und für so lange Zeit zu schließen?

Brinkmann Durch die zermürbende Mittelinzidenz und damit Dauer-Lockdown-Politik der zweiten Welle waren die Infektionszahlen und Hospitalisierungen so hoch, dass ab Weihnachten 2020 die Schulen geschlossen wurden. Diese langen Schulschließungen bis in den Mai 2021 waren ein Armutszeugnis. Dabei gab es gute Konzepte, Schule unter Pandemiebedingungen geöffnet zu halten. Aber irgendwie gab es damals nur die Diskussion: Schule auf oder Schule zu. Der Weg dazwischen, also der Schutz von Bildung und Gesundheit, wurde nicht gut umgesetzt.

War es andererseits richtig, Patienten in den Kliniken sterben zu lassen, ohne dass sie sich von ihren Verwandten verabschieden konnten?

Brinkmann Die Wahl zwischen Pest und Cholera. Es war dramatisch, wie viele Menschen an Corona gestorben sind, als wir noch keine Impfstoffe hatten, und wie viele auch alleine in dieser Zeit sterben mussten. Hätten wir die Virusverbreitung nicht eingedämmt, wären aber noch viel mehr Menschen gestorben – und eins vergessen viele: Lässt man dem Virus freien Lauf in einer Bevölkerung ohne Immunität, verliert man die Kontrolle. Und das Virus zwingt uns, letztendlich zu handeln, aber mit vielen Toten und Schwerkranken. Das ist zum Glück heute durch die breite Immunität in der Bevölkerung anders.

Sie haben sich für die No-Covid-Strategie ausgesprochen. Die ist in China gerade ziemlich gescheitert.

Brinkmann Ich habe mich nicht nur für die No-Covid Strategie ausgesprochen, ich war aktiv an der Ausarbeitung der Strategie beteiligt, und stehe auch nach wie vor dazu. Wir haben viele gute Konzepte für das Management der Pandemie ausgearbeitet, die man heute noch nachlesen kann. Ich halte das Konzept der Niedriginzidenzstrategie bei dieser Art von Virus – in einer nicht-immunen, ungeimpften Bevölkerung – immer noch für das Richtige. Die No-Covid Strategie ist eine Niedriginzidenzstrategie, die Dauer-Lockdowns und geschlossene Schulen verhindern wollte. Ich habe nie verstanden, warum die FDP diesen Weg nicht unterstützt hat – ein Virus, das außer Kontrolle ist, nimmt uns unsere Freiheit, aber mit intelligenten Maßnahmen hätten wir es unter Kontrolle halten können, bis die Risikogruppen geimpft sind. Lange ist China mit der Strategie im internationalen Vergleich sehr gut gefahren. China hat den großen Fehler gemacht, die ältere Bevölkerung nicht ausreichend zu impfen, und mit der hochansteckenden Omikron-Variante und der Ablehnung der westlichen hochwirksamen Impfstoffe steckten sie in einer Sackgasse. In der Phase, in der wir hier in Deutschland im Lockdown saßen und uns die Delta-Variante um die Ohren geflogen ist, hatte man in China viele Freiheiten. Eine Niedriginzidenzstrategie muss man ja nur solange durchhalten, bis die Bevölkerung eine Immunität aufgebaut hat. Da hat China die Kurve nicht gut gekriegt.

Wenn Sie die Politik kritisieren, wen meinen Sie? Die Kanzlerin, die Ministerpräsidenten?

Brinkmann Angela Merkel hat die hohe Ausbreitungsdynamik dieses Virus verstanden und auch das Konzept und die Vorteile der Niedriginzidenzstrategie. Wenn sie alleine den Kurs hätte festlegen können, wären wir besser gefahren, denke ich. Doch sie war nicht allein, sondern umgeben von Länderchefinnen und -chefs, von denen einige mehr, andere weniger im Thema steckten. Der Föderalismus war in der akuten Krise nicht unbedingt ein Vorteil und ich habe das uneinheitliche Vorgehen der Länder häufig kritisiert. Wie erklärt man denn den Bürgern, dass man in Niedersachsen in den Baumarkt darf, aber nicht im benachbarten Bundesland? Es gab da echt absurde Situationen, in der die Politik viel Vertrauen verspielt hat.

Wie Markus Söder und Armin Laschet?

Brinkmann Gab es da nicht auch eine anstehende Bundestagswahl?

Was lief beim Impfen falsch?

Brinkmann Es war ein großer Erfolg, dass wir so schnell wirksame Impfstoffe hatten. Ohne jahrzehntelange Grundlagenforschung wäre das nicht möglich gewesen. Ein Fehler war, zunächst zu meinen, dass eine Impfquote von 60 Prozent reicht, um wieder alle Maßnahmen zurücknehmen zu können. Tatsächlich wären über 90 Prozent ein gutes Ziel gewesen, bei über 80-Jährigen sogar 100 Prozent. Diese Quoten haben wir nicht geschafft. Das hat die Krise dann in die Länge gezogen, das hätte ich mir anders gewünscht.

Was hat die Wissenschaft falsch gemacht?

Brinkmann Das Virus hat sich überraschend rasch und flexibel angepasst, in unglaublich kurzer Zeit. Das haben wir unterschätzt. Der erste Impfstoff hatte einen recht guten Schutz auch vor Infektionen gegen das Ursprungsvirus und auch die Delta-Variante. Das hat sich mit dem Auftreten der Omikron-Variante leider verändert. Diese veränderten Spielregeln hätte man besser kommunizieren müssen.

Wer hat schlecht kommuniziert – die Wissenschaft oder die Politik?

Brinkmann Es ging phasenweise ganz schön durcheinander. Wir brauchen in Deutschland dringend eine Struktur für gute Gesundheitskommunikation, die klar getrennt ist von politischer Kommunikation. Manche Menschen wussten am Ende nicht mehr so recht, was nun richtig oder falsch war, welchen Quellen sie vertrauen können. Auch bei Kommunikation gilt: Sie sollte einheitlich sein, zumindest was das große Ganze angeht. Das lief nicht optimal, wurde durch die mediale Berichterstattung aber auch teilweise künstlich erzeugt. Kanzlerin Merkel hat am Anfang sehr gut erklärt, andere Länder haben 2020 etwas neidvoll nach Deutschland geblickt, wo die Kanzlerin der Bevölkerung die Dynamik exponentiellen Wachstums erklärt hat. Später trat sie in der Öffentlichkeit weniger in Erscheinung. Aber auch jetzt fehlt mir eine gute kommunikative Begleitung des Auslaufens der Pandemie – auch von Vertretern der Wissenschaft.

Gab es zu viele unterschiedliche Einschätzungen aus der Wissenschaft?

Brinkmann Wir leben in einer Demokratie, in der es ein hohes Gut darstellt, dass man seine Meinung frei äußern darf. Was ich jedoch nicht verstehe, ist, dass Aussagen, auch wenn sie erwiesenermaßen falsch sind, nicht kritisch hinterfragt werden. Und das ist leider passiert. Da wurden manche Wissenschaftler vor den politischen Karren gespannt. Wir haben hervorragende Wissenschaftsjournalisten in Deutschland, die in der Lage sind, Dinge richtig einzuschätzen und einzuordnen. Dazu gehört auch die Auswahl der wissenschaftlichen Expertinnen und Experten, die zu einem Thema befragt werden können.

Demnächst sollen die letzten Corona-Regeln fallen. Am 1. März etwa die Maskenpflicht für Beschäftigte in Krankenhäuser, Heimen und Arztpraxen. Richtig?

Brinkmann Ich hätte es besser gefunden, die Maskenpflicht in diesen kritischen Bereichen unseres Gesundheitssystems beizubehalten.

Gilt das auch für die Maskenpflicht für Besucher von Krankenhäusern, die am 7. April fallen soll?

Brinkmann Leider sind die Masken stark politisiert worden, was ich sehr bedaure. Der Schutz durch die Bedeckung von Mund und Nase ist unbestritten sehr hoch. Deshalb wäre es sinnvoll, die Maskenpflicht für Besucher von Kliniken, Arztpraxen und Heimen weiterlaufen zu lassen, solange das Infektionsgeschehen hoch ist. Die verletzlichen Gruppen unserer Gesellschaft können so viel besser geschützt werden. Ich kann mir vorstellen, dass das in diesen Bereichen auch ohne Pflicht von vielen beibehalten wird.

Werden wir in Zukunft häufiger Pandemien in einem solchen Ausmaß bekommen?

Brinkmann Die nächste Pandemie wird kommen, so viel steht fest. Welches Ausmaß sie haben wird, kann ich nicht vorhersehen. Wir haben viel dazugelernt während der Corona-Pandemie, die Wissenschaft entwickelt sich ständig weiter – nur so können wir neuen Herausforderungen begegnen.

Wie muss der Staat reagieren?

Brinkmann Die Förderung der Grundlagenforschung und angewandten Forschung intensivieren, aber auch das Thema Prävention viel stärker bespielen. Dies trifft auf alle großen Volkskrankheiten (Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Infektionserkrankungen, psychische Erkrankungen) zu. Dabei spielt das Thema Bildung eine entscheidende Rolle: Was nutzt mir der beste Impfstoff, wenn die Bevölkerung ihn nicht akzeptiert?

Ist es denn wissenschaftlich schon entschieden, ob das Coronavirus durch eine Wildtierübertragung oder durch fehlerhafte Laborversuche nach außen gedrungen ist?

Brinkmann Sehr wahrscheinlich hat der Wildtiermarkt in Wuhan bei der anfänglichen Ausbreitung eine wichtige Rolle gespielt. Es kann noch lange dauern, bis der genaue Ursprung geklärt ist. Vielleicht werden wir nie absolute Gewissheit haben.

Wird es nun jedes Jahr Impfkampagnen gegen Corona geben?

Brinkmann Saisonale Impfungen wie bei der Grippe könnten zur Regel werden. Vor allem bei Älteren und bei Menschen mit Vorerkrankungen. Leider hat die Skepsis gegenüber dem Impfen eher noch zugenommen.

Virologin Melanie Brinkmann: Nächste Pandemie wird kommen
Foto: grafik

Gibt es ein Mittel dagegen?

Brinkmann Aufklärung, Wissen vermitteln und dadurch langfristig Vertrauen aufbauen. Menschen in die Lage versetzen, kluge Entscheidungen für sich und andere treffen zu können. Dann funktioniert es auch mit der Eigenverantwortung.

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