Interview mit Verdi-Chef Frank Bsirske "Uns droht massenhafte Altersarmut"

Düsseldorf · Der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, Frank Bsirske, spricht im Interview mit unserer Redaktion über die Rentenpläne der großen Koalition, den Mindestlohn, die massiven Streiks im öffentlichen Dienst und die Arbeitsbedingungen bei den Internet-Versandhändlern.

Frank Bsirske: Stationen eines Berufsfunktionärs
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Die Stimmen werden lauter, wonach das Rentenniveau bei mindestens 50 Prozent eingefroren werden muss. Was halten Sie von dem Vorschlag?

Bsirske Das Thema Altersarmut ist eines der drängendsten, das gelöst werden muss. Wenn das Rentenniveau wie geplant 2030 auf 43 Prozent sinkt und gleichzeitig die Rente mit 67 vollzogen ist, dann wird jemand, der sein ganzes Leben lang zum Durchschnittseinkommen gearbeitet hat und derzeit rund 2600 Euro verdient, 33,4 Beitragsjahre benötigen, um auf Hartz IV-Niveau in der Rente zu kommen. Uns droht massenhafte Altersarmut. 50 Prozent aller Männer der Geburtsjahrgänge 1956 bis 1965 in den neuen Bundesländern werden nicht über Hartz-IV-Niveau hinauskommen. Wir unterstützen deshalb den Vorschlag der SPD-Linken, das Rentenniveau bei mindestens 50 Prozent zu stabilisieren.

Die Union dürfte da nicht mitspielen.

Bsirske Beide Parteien haben die Solidarrente in ihr Wahlprogramm geschrieben. Die Sensibilität für das Thema ist auch bei der Union da. Der SPD-Vorschlag ist ein längst überfälliger Impuls.

Die Gewerkschaften haben die Rente mit 63 durchgesetzt. Sollten Zeiten der Arbeitslosigkeit angerechnet werden?

Bsirske Warum nicht? Das sind über Jahrzehnte Beitragszeiten gewesen. Schwierig wird allerdings die geplante Differenzierung zwischen Langzeitarbeitslosen und ALG-I-Beziehern. Es gibt rechtlich Zweifel, ob die Langzeitarbeitslosen ausgeklammert werden dürfen.

Die Union fürchtet, dass es zu einer Frühverrentungswelle kommt. Wie kann das verhindert werden?

Bsirske Man könnte beispielsweise Abfindungen stärker besteuern.

Die Rente mit 63 steht im Widerspruch zum demografischen Wandel. Wie sollen die fehlenden Arbeitskräfte ersetzt werden — etwa durch deutlich mehr Zuwanderung?

Bsirske Die Fachkräftestrategie der Regierung setzt auf eine größere Erwerbstätigkeit bei Frauen, mehr Bildung bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund, eine bessere Willkommenskultur und eine alters- und alternsgerechte Arbeitswelt, die es ermöglicht, länger im Job zu bleiben. Vor allem für Ersteres müssen wir bei der Kinderbetreuung und bei der Pflege mehr Angebote machen. Dafür brauchen wir auch eine Aufwertung der sozialen Berufe.

Wie soll das konkret ablaufen?

Bsirske Bei der Altenpflege brauchen wir eine Umlagefinanzierung der Ausbildung, wie wir es bei den Krankenhäusern schon haben. Es kann doch nicht sein, dass die dringend benötigten Altenpflege-Azubis in vielen Bundesländern Schulgeld bezahlen müssen. Außerdem benötigen wir deutlich höhere Löhne bei den Sozialberufen. Für diese Aufwertung werden wir uns etwa bei den Sozial- und Erziehungsberufe in der Tarifrunde ab Anfang nächsten Jahres einsetzen. Wir benötigen zudem bessere Arbeitsbedingungen, also Entlastungen durch die gesetzliche Festlegung höherer Personalschlüssel in den Kliniken.

Reden wir über den Mindestlohn. Die Arbeitgeber warnen vor einem Anstieg der Arbeitslosigkeit.

Bsirske In Großbritannien gibt es Studien, die gezeigt haben, dass unterm Strich kein Job seit der Einführung verloren gegangen ist. Das hat auch die Auswertung der alten schwarz-gelben Bundesregierung zu den schon geltenden deutschen Branchenmindestlöhnen ergeben. Wir brauchen den gesetzlichen Mindestlohn jetzt flächendeckend. Es ist doch pervers, dass ein Postangestellter mit seinen Steuern die Niedriglöhne der Konkurrenz über Aufstockerleistungen mitfinanziert, die ihm dann als Wettbewerbsnachteil ausgelegt und zur Drückung des eigenen Lohns herangezogen werden.

Die Union hat durchgesetzt, dass Langzeitarbeitslose ihn erst nach sechs Monaten bekommen. Hat sich die SPD ausboten lassen?

Bsirske Die Ausnahme ist unsinnig und verfehlt. Wir werden uns bemühen, dass diese Regelung ersatzlos gestrichen wird.

Über die künftige Anpassung des Mindestlohns soll eine Kommission entscheiden. Haben Sie Verdi einen festen Platz gesichert?

Bsirske Neben einem Vertreter des DGB sollten da rotierend die Gewerkschaften drinsitzen, deren Branchen es betrifft: also Verdi, NGG und IG BAU.

Gibt es auch einen Platz für die Industriegewerkschaften?

Bsirske In deren Branchen gibt es de facto keine Niedriglöhne, aber selbstverständlich stimmen wir uns im DGB eng ab .

Nach welchem Kriterium sollte der Mindestlohn angepasst werden?

Bsirske Er soll laut Gesetz der Tarifentwicklung in wichtigen Branchen folgen, ein Maßstab dafür ist der Tarifindex des Statistischen Bundesamtes.

Sie haben kürzlich gesagt, der Mindestlohn müsse zügig auf zehn Euro steigen. Das entsprach nicht der Linie des DGB. Wie groß war der Ärger?

Bsirske Diese Position haben wir seit dem letzten Bundeskongress von Verdi. Die ist nicht neu. 8,50 Euro liegen bei Vollzeit im Monat noch immer unter der Lohnpfändungsfreigrenze. Es gibt durchaus auch bei den Arbeitgebern die Bereitschaft, den Mindestlohn schon 2017 und nicht — wie im Koalitionsvertrag geplant — erst 2018 anzuheben. Dann muss er aber mit Blick auf die Tarifentwicklung 2015 und 2016 im ersten Schritt deutlich steigen.

Sie haben zuletzt mit Ihrer aggressiven Streiktaktik im öffentlichen Dienst die Geduld der Bürger auf die Probe gestellt. Werden Sie in der Öffentlichkeit deswegen angegangen?

Bsirske Das Verständnis für unsere Forderung war da. Viele Menschen haben verstanden, dass es besser ist, klare Zeichen per Warnstreik zu setzen und die Verhandlungen so schnell über die Bühne zu bringen.

Einige Experten haben bezweifelt, dass es sich bei den massiven Flughafen- und ÖPNV-Streiks noch um Warnstreiks gehandelt habe.

Bsirske Die waren zeitlich befristet, also ganz klar Warnstreiks.

Enormer Druck kam durch die Streiks an den Flughäfen zustande. Werden Sie darauf in Zukunft auch setzen?

Bsirske Ja, das ist ein klares Signal gewesen, dass auch die Flughafenbeschäftigten hinter der Tarifforderung standen. Wären die Arbeitgeber uneinsichtig geblieben, wäre bei einem Erzwingungsstreik auch dieser Bereich kein Tabu gewesen.

Sie haben ein deutliches Lohnplus erreicht. Bei künftigen Verhandlungen werden Sie nicht mehr mit Nachholbedarf argumentieren können.

Bsirske Wir haben den Abstand zur Privatwirtschaft zwar reduziert, aber völlig aufgeholt ist er nicht. Wir werden versuchen, ihn zügig in zu egalisieren.

Sie haben sich einen monatelangen Kampf mit Amazon geliefert. Jetzt rücken die Arbeitsbedingungen bei Zalando in den Fokus. Was ist los bei Deutschlands Versandhändlern?

Bsirske Wir haben es insbesondere bei Amazon und der Verweigerung eines Tarifvertrags mit dem Versuch zu tun, eine Amerikanisierung der Arbeitsbeziehungen zu schaffen. Die führen sich auf, als seien sie im Wilden Westen. Da wird jemand abgemahnt, weil er "zweimal in fünf Minuten inaktiv" war. Das hat mit Sozialpartnerschaft nichts mehr zu tun. Da werden wir Druck machen. Das gilt auch für Zalando: Die Beschäftigten brauchen den Schutz von Tarifverträgen, statt ständigen Druck und kontinuierliche Kontrolle.

Im kommenden Jahr steht der Verdi-Gewerkschaftstag an. Zeit für den Vorsitzenden, die Rente mit 63 für sich selbst zu beanspruchen?

Bsirske (lacht) Ich habe nicht vor, das zu tun.

Wäre dann zur Hälfte der Amtszeit Schluss?

Bsirske Gehen Sie mal davon aus, dass eine Kandidatur eine Kandidatur für die volle Amtszeit ist.

Maximilian Plück führte das Gespräch

(maxi)
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