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"Die erschöpfte Gesellschaft" von Stephan Grünewald Warum die Deutschen gerne viel arbeiten

Düsseldorf · Der Kölner Psychologe Stephan Grünewald legt die Deutschen mit ihrem "Erschöpfungsstolz" auf die Couch. "Unser Leben dreht sich immer schneller, wir hetzen von einem Termin zum anderen, sind getrieben von einer inneren Unruhe . . . Zwar sind wir rund um die Uhr emsig, rackern uns nach Kräften ab, wissen aber oft gar nicht, was wir da eigentlich machen – und vor allem warum."

Der Kölner Psychologe Stephan Grünewald legt die Deutschen mit ihrem "Erschöpfungsstolz" auf die Couch. "Unser Leben dreht sich immer schneller, wir hetzen von einem Termin zum anderen, sind getrieben von einer inneren Unruhe . . . Zwar sind wir rund um die Uhr emsig, rackern uns nach Kräften ab, wissen aber oft gar nicht, was wir da eigentlich machen — und vor allem warum."

Wer die beiden Sätze voll oder zumindest halbwegs zustimmend liest, ist Teil der "Erschöpften Gesellschaft", die der Kölner Buchautor Stephan Grünewald auf seine tiefenpsychologische Couch legt. Grünewald urteilt streng über die wunderlich betriebsamen Deutschen im Hamsterrad, die auch noch stolz auf den Grad der Erschöpfung am Ende ihres Arbeitstages sind und selbst ihre Wochenend-Freizeit gern akribisch durchplanen: "Der Seelenschaden unserer überdrehten Lebensführung ist trotz der wirtschaftlichen Stabilität nicht zu leugnen."

Es erscheint schon ein wenig überspannt, ja verrückt: Während die Diagnose Depression einen Mangelzustand niederschmetternden Herabgedrücktseins etikettiert, hat das Burn-out-Syndrom den Nimbus einer modernen Tapferkeitsmedaille. Einmal traumverloren die Seele oder die Beine baumeln zu lassen — das ist unsere Sache nicht. Wir dauertüchtigen Deutschen, die wir uns etwas darauf zugute halten, Europameister im Wirtschaften, im Exportieren, im Sparen (auch im Schulmeistern?) zu sein, stehen permanent unter Druck. Überall werden Leistung und Effizienz verlangt.

In Tausenden von tiefenpsychologischen Interviews förderte Grünewalds Rheingold-Institut dieses zutage: In vielen Unternehmen tobt eine Erschöpfungs-Konkurrenz. Es gibt heroische Erzählungen von Marathonsitzungen, Nachtschichten, gecheckten, abgearbeiteten Mail-Hundertschaften, bestandenen Multitasking-Prüfungen. "Warum", so fragt nicht nur der Seelenkundler Grünewald, "unterwerfen sich die meisten Menschen diesem Leistungsdiktat?"

Es grassiert eine Krisenstimmung. Sie wird gekennzeichnet durch das Gefühl, zwar noch sicheren Boden unter den Füßen zu haben, aber jeden Moment ins Bodenlose stürzen zu können. In solchen Lagen muss die eigene Handlungsfähigkeit demonstriert werden: im Beruf durch unbezahlte Überstunden beispielsweise, die vielfach bereits zur Firmenordnung zählen, und daheim durch "private Bodenoffensiven" wie Psychologe Grünewald die Kleinkriege beim Putzen und Heimwerken nennt.

Der Zukunfts-Ungewissheit wird eine moderne Form des antiken "Höher! Schneller! Weiter!" entgegengestellt. Der Mensch in seinem Erschöpfungsstolz hat im Alltag längst auf Autopilot geschaltet: überbetriebsam, überkontrolliert, mit dem Smartphone werktags und an Sonn- und Feiertagen unterwegs. Tagsüber von montags bis sonntags auf vielen Hochzeiten tanzen und abends völlig erschöpft ins Bett fallen — dieser Lebensrhythmus gehorcht dem inneren Ordnungsruf: "Wer rastet, der stirbt."

Selbst Senioren zwischen 60 und 75 versuchen offenbar, unverdrossen Handlungsfähigkeit zu demonstrieren; man fühlt sich nicht im Ruhe-, vielmehr im Unruhestand. Unter den Älteren findet man immer mehr rastlose Rumtreiber mit einer Flut von Terminen, fern vom Ideal früherer Zeiten, in denen lebenskluge Senioren die Gesellschaft durch Erfahrung und Weisheit bereichern konnten. Grünewald über die Älteren: "Vor allem im Abgleich mit den Jüngeren erfahren sie schmerzlich den Tribut des Alters. Dennoch versuchen sie durch ständige körperliche Aktivität und Umtriebigkeit den eigenen Alterungsprozess zu verlangsamen oder auszublenden."

Auf dem jugendlichen Rettungsfallschirm gegen das zunehmende Gefühl, in einer zerrissenen und brüchigen Welt zu leben, stehen hingegen nicht Begriffe wie "Widerstand" und "Revolte", sondern "Ordnung", "Beständigkeit", "Verlässlichkeit" geschrieben. Alt-68er, die mittlerweile um die 68 sind, wundern sich über eine Jugend, die ihnen spießig erscheint und ihre Hymne vom "Haus am See" mit den "Orangenbaumblättern auf dem Weg" und den "20 Kindern" singt.

Das Lied ist eine einzige Träumerei. Zu eben dieser Kunst des Träumens rät der rheinische Seelenkundler, bei dem Tausende Deutschen auf der Couch lagen. Der Traum, so Stephan Grünewald, ist das natürliche Korrektiv zur Betriebsamkeit des Alltags. Und dies noch zum Schluss, politisch gänzlich inkorrekt: "Wir führen einen Kreuzzug gegen die Langeweile, der aber letztendlich nur rasenden Stillstand und Erschöpfung produziert."

(RP/sap)
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