Digitalisierung Schöne neue Arbeitswelt

Berlin · Hinter die Rente mit 63 hat Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) ein Häkchen setzen können, hinter den Mindestlohn auch. Jetzt hat sie endlich Zeit, sich um das Zukunftsthema Nummer eins zu kümmern: Die Veränderungen der Arbeitswelt durch die vierte industrielle Revolution.

 Die neuesten Maschinen der Industrie 4.0 kommunizieren untereinander.

Die neuesten Maschinen der Industrie 4.0 kommunizieren untereinander.

Foto: dpa Picture-Alliance (4)

Was spröde anmutet, dürfte spätestens in zehn Jahren nahezu jeden Arbeitnehmer des Dienstleistungs- und Industriesektors betreffen. Dann nämlich, wenn nicht nur die großen Automobilwerke der Nation in voll automatisierte Fabriken umgewandelt sind, auf deren Montageebenen bereits Roboter mit Robotern ein vernetztes Eigenleben führen. Denn eine Digitalisierung der Arbeitswelt meint zwar "Industrie 4.0" und das "Internet der Dinge", also die Automatisierung von Arbeitsschritten.

Sie meint aber jenseits der Industriehallen auch mobiles Arbeiten per Smartphone, Tablet-Computer und Datenbrille — von zu Hause oder im Zug. Digitalisierung meint aufgeweichte Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit, zwischen Berufstätigkeit und Familienleben. Sie meint neue Berufe und stellt an Einsteiger wie Erfahrene andere, neue Qualifikationsanforderungen. Crashkurse für die Bedienung eines Windows-Rechners werden künftig jedenfalls nicht mehr reichen. Vielen Menschen macht das Angst. Das hat auch Ministerin Nahles verstanden. Beschäftigte fürchten um ihren Arbeitsplatz, weil Maschinen ihre Tätigkeit übernehmen könnten. Kürzlich rechnete der Personalvorstand von Volkswagen unverhohlen vor, dass ein Roboter drei bis sechs Euro pro Stunde koste, ein qualifizierter Mitarbeiter 30 bis 50 Euro. Digitalisierung ist auch eine Chance für Einsparungen.

Bei anderen Menschen überwiegt weniger die Sorge um den Arbeitsplatz selbst als vielmehr die Furcht vor neuen Anforderungen und potenzieller Konkurrenz. Um aber die Chancen und Gefahren dieser Revolution später auch durch politisches Handeln lenken zu können, hat Andrea Nahles nun ein Grünbuch "Arbeit 4.0" vorgelegt. Bis November haben Verbände und Gewerkschaften Zeit, Position zu dem knapp 100 Seiten starken Werk zu beziehen. Ist das geschehen, will Nahles ihren Kurs abstecken, 2016 ein Weißbuch veröffentlichen und Gesetze auf den Weg bringen. So denkt sie darüber nach, für mehr Flexibilität bei Arbeitszeiten zu sorgen.

Nahles nennt ein Beispiel: Wenn ein Arbeitnehmer früher aus dem Büro gehe, um bei den Kindern zu sein, und am Abend noch dienstliche E-Mails bearbeite, dürfe er laut geltendem Arbeitszeitgesetz nicht frühmorgens zur ersten Konferenz ins Büro kommen. "Wir brauchen einen neuen Flexibilitätskompromiss", fordert die Ministerin und beeilt sich zu sagen, dass das jedoch nicht zu einer ständigen Erreichbarkeit führen dürfe.

Angela Merkel eröffnet CeBIT 2015 in Hannover
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Aber dass im Zuge flexiblerer Arbeitszeiten auch die Kinderbetreuungsangebote zeitlich flexibler werden müssen, ist nur einer der vielen Nebeneffekte, die Nahles zunächst nicht erwähnt. Andere Vorschläge betreffen eine Umstrukturierung der Arbeitsagentur für mehr Qualifizierungsangebote, auch ein neues Versorgungswerk für digitale Tagelöhner, sogenannte Crowdworker, ist im Gespräch.

Doch bisher wirft Nahles mit ihrem Grünbuch mehr Fragen auf als sie Antworten gibt und erinnert damit an die Digitale Agenda der Bundesregierung, die sich an vielen Stellen ähnlich unkonkret liest. Sogar strategische Mängel sind erkennbar, wenn man sich fragt, wie die von Nahles auf den Weg gebrachte und für ihre pingelige Regelwut kritisierte Arbeitsstättenverordnung für Heimarbeitsplätze zum drastisch ansteigenden Home-Office-Trend der digitalisierten Welt passen soll?

Klar ist, dass die Digitalisierung der Arbeitswelt nicht nur in Nahles' Ministerium hohe Wellen schlägt. Morgen wird das Thema auch auf Schloss Meseberg das alljährliche Treffen von Arbeitgebern und Gewerkschaften auf Einladung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dominieren. Im Vorfeld hat nun Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer die Computerfähigkeiten von Schülern in Deutschland als "nur mittelmäßig" kritisiert und eine Bildungsoffensive für die digitale Arbeitswelt gefordert. "Mit ihren Computer-Fähigkeiten sind die deutschen Schüler im internationalen Vergleich nur Mittelmaß", sagte Kramer unserer Redaktion. Damit die Menschen kompetent und souverän an der digitalen Welt teilhaben könnten, müsse unser Bildungssystem auf allen Ebenen an die neuen Herausforderungen anknüpfen. "Die ,Gesellschaft 4.0´ setzt eine Bildungsoffensive voraus", sagte Kramer.

"Wir müssen von den Schulen bis zur beruflichen Bildung und den Hochschulen die notwendigen Voraussetzungen dafür schaffen, dass den Betrieben die dringend benötigten Fachkräfte mit allen notwendigen digitalen Kenntnissen und Fähigkeiten zur Verfügung stehen." Die weiterhin zu hohe Zahl nicht ausbildungsreifer Schulabgänger müsse ebenso wie die Zahl junger Menschen ohne Berufsabschluss deutlich verringert werden, sagte Kramer.

Auch von den Gewerkschaften, die teils eigene Plattformen zur Digitalisierung der Arbeitswelt geschaffen haben, gibt es Forderungen, etwa für eine stärkere Tarifbindung und einen Ausbau der Mitbestimmung. "Nur so können wir ein digitales Prekariat verhindern", sagte DGB-Chef Reiner Hoffmann auf Anfrage. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) hörte sich zuletzt ähnlich an: "Der Wert der digitalen Revolution bemisst sich am Gewinn von Lebensqualität für die größtmögliche Zahl von Menschen", sagte er am Montag bei einer Veranstaltung in Essen.

Das Silicon Valley habe uns sensationelle Technologien gegeben, so der SPD-Chef. "Aber es hat die Frage nicht beantwortet, welche menschliche Vision wir mit der neuen technologischen Ära verbinden." Dafür gebe es noch kein gesellschaftspolitisches Konzept.

(mar / jd)
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