Immer mehr Einhörner in Deutschland Geldschwemme für Start-ups – doch NRW profitiert kaum

Düsseldorf · Die Bewertungen haben sich bei Start-ups innerhalb weniger Monate rasant erhöht. Immer mehr deutsche Gründungen werden mit mehr als einer Milliarde Dollar bewertet – doch davon profitieren nur zwei Standorte.

 Einhörner sind Fabelwesen – aber auch Start-ups mit Milliardenbewertung bezeichnet man so.

Einhörner sind Fabelwesen – aber auch Start-ups mit Milliardenbewertung bezeichnet man so.

Foto: Krebs, Andreas (kan)

Der Mann hatte ein Milliarden-Unternehmen an die Börse gebracht, als er von einem Journalisten des „Spiegel“ gefragt wurde, warum Geschichten wie diese im in Deutschland im Vergleich zu den USA so viel seltener seien? Aus Sicht von SAP-Gründer Dietmar Hopp gab es dafür zwei Gründe: Zugang zu Kapital und Gründermentalität. „In Amerika haben es Firmengründer sehr viel leichter“, sagte Dietmar Hopp. Das war 1995.

Mehr als 25 Jahre später ist SAP noch immer das größte deutsche Software-Unternehmen. Ernsthafte Konkurrenz hat es in all den Jahren nicht bekommen. Denn während in den USA neu gegründete Technologie-Konzerne an den Börsen aufstiegen, erneuerte sich die deutsche Wirtschaft nur langsam: Im Leitindex Dax dominieren bis heute oftmals 100 Jahre alte Konzerne aus recht klassischen Industrien.

Celonis wurde zum wertvollsten Start-up Deutschlands

Doch in den vergangenen Wochen hat sich erstaunliches in der deutschen Wirtschaft abgespielt: Überall tauchten plötzlich Einhörner auf. Einhörner – so nennt man nicht-börsennotierte Start-ups mit einer Bewertung von mehr als einer Milliarde US-Dollar. Eigentlich gelten sie als seltene Spezies, erst recht in der deutschen Gründerszene. Aber das hat sich zuletzt geändert.

Mit dem Münchner Start-up Celonis wurde zuletzt erstmals ein deutsches Start-up mit mehr als zehn Milliarden Dollar bewertet. Damit gehört das Unternehmen, dessen Software Firmen dabei hilft, ihre Prozesse zu optimieren, zu den wertvollsten Jung-Unternehmen Europas. Mehr als eine Milliarde Dollar bekam das Gründer-Trio Bastian Nominacher, Martin Klenk und Alexander Rinke von Investoren an frischem Kapital.

Die Bewertungen vieler Start-ups explodieren aktuell

Durch die Finanzierungsrunde löste Celonis den Berliner Neobroker Trade Republic als wertvollstes Start-up Deutschlands ab, nachdem dieser den inoffiziellen Titel durch eine Bewertung von 5,3 Milliarden Dollar erst drei Wochen zuvor errungen hatte. Auch Flix Mobility, das Unternehmen hinter dem Fernbusanbieter Flixbus, das Versicherungs-Start-up Wefox, das Logistik-Start-up Sennder oder der Trade-Republic-Konkurrent Scalable Capital konnten zuletzt neue Rekordwerte vermelden.

Die Bewertungen vieler deutscher Start-ups explodieren aktuell geradezu. Nirgendwo wird das so deutlich wie im Bereich der Sofort-Lieferdienste. Das Start-up Gorillas wurde erst im vergangenen Jahr in Berlin gegründet, hat bei der Bewertung allerdings schon in diesem Jahr die Milliarden-Grenze durchbrochen.

Weltweit gibt es mehr als 700 sogenannte Einhörner

Die Zahl der Einhörner liegt in Deutschland laut dem Analysedienst CB Insights inzwischen bei 17. Damit machen die deutschen Unternehmen zwar nur einen kleinen Teil der weltweit mehr als 700  Start-ups aus. Allein in diesem Jahr sind aber sechs neue Einhörner in Deutschland hinzugekommen.

Auffällig ist dabei jedoch, wo diese Start-ups sitzen – nämlich in der Regel in Berlin oder Bayern. NRW spielt beim Wettlauf um die ganz großen Geldtöpfe bislang keine Rolle. Der Abstand zu den beiden Regionen dürfte in nächster Zeit sogar erstmal größer werden. Denn die Zahl der Start-ups ist in NRW zuletzt zwar deutlich gestiegen. Doch gerade größere Start-ups mit einer dreistelligen Millionenbewertung gibt es hier selten.

LeanIX gilt als größter Hoffnungsträger in NRW

Hört man sich unter Investoren um, welches Start-up in den kommenden zwölf Monaten die Milliarden-Marke knacken könnten, wird es erstmal still am Telefon. Vielen fällt kein Unternehmen ein, andere nennen zumindest einen Namen: LeanIX. Mit der Software des Bonner Start-ups können Unternehmen vereinfacht gesagt einen Katalog über die von ihnen eingesetzte Software erstellen. Das ist speziell für Großunternehmen interessant. An dem Start-up ist bereits die Großbank Goldman Sachs beteiligt. Der Firmenwert von LeanIX dürfte inzwischen bei mehr als einer halben Milliarde Euro liegen.

Viele vielversprechende Firmen in NRW wurden hingegen zuletzt bereits verkauft: Die Oetker-Gruppe sicherte sich den Getränke-Lieferdienst Flaschenpost, IBM übernahm das Solinger Start-up Instana und der Energieriese Shell das Kölner Unternehmen Next Kraftwerke. Im Einzelfall machte jeder Verkauf Sinn, in der Summe verlor NRW aber dadurch seine größten Hoffnungsträger.

Gründer müssen groß denken

Ein anderer wurde hingegen aus Sicht einiger Investoren zuletzt etwas überschätzt. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete kürzlich, der Kölner Online-Anbieter von Luxusuhren Chronext könnte bei einem geplanten Börsengang in diesem Jahr auf eine Bewertung von bis zu einer Milliarde Euro kommen. Mehrere Investoren, die das Unternehmen gut kennen, sagen aber, diese Summe sei zu hoch gegriffen. Gründer Philipp Man attestieren sie immerhin die richtige Mentalität: „Er denkt gerne groß“, heißt es.

In der Vergangenheit unterstellte man deutschen Gründern oft, ihr Unternehmen zu schnell verkaufen zu wollen – was auch daran lag, dass es neben dem Verkauf an ein Unternehmen nur wenige Möglichkeiten eines sogenannten Exits gab. Börsengänge von Start-ups sind noch immer eher selten in Deutschland.

Inzwischen ändert sich aber offenbar bei vielen die Mentalität, die Gründer werden ambitionierter. So lobt Florian Heinemann, der mit dem Berliner Risikokapitalgeber Project A seit Jahren in Start-ups investiert, den Trade-Republic-Gründer Christian Hecker, für dessen visionäres Denken: „Solche Typen sind in Deutschland selten, aber genau die braucht es, um am Ende auch weltweit führende Risikokapitalgeber wie Sequoia zu überzeugen.“

US-Investoren erzielen in Deutschland höhere Renditen

Genau diese großen Risikokapitalgeber sind es, die aktuell für die Geldschwemme im deutschen Markt sorgen. Speziell in den USA haben viele Investoren mit ihren Fonds zuletzt viel Kapital aufgenommen, das nun investiert werden muss. Und im Vergleich zum seit Jahren aufgeheizten US-Markt sind die Preise für deutsche Start-ups immer noch vergleichsweise günstig. Die Renditen lägen inzwischen deutlich über denen bei US-Investments, errechnete kürzlich der Risikokapitalgeber Earlybird im Auftrag des Handelsblatts.

Für deutsche Investoren, auch solche aus NRW, ist die Geldschwemme Fluch und Segen zugleich. Einerseits erhöhen sich ihre Gewinne bei einem erfolgreichen Verkauf durch höhere Bewertungen. Andererseits sind ihre eigenen Fonds inzwischen vielfach zu klein, um bei größeren Finanzierungsrunden noch mitziehen zu können. „Wir hätten eher gedacht, dass die Bewertungen durch die Corona-Pandemie sinken werden“, sagt der Chef eines großen Risikokapitalgebers, der genau wie andere Gesprächspartner lieber anonym bleiben möchte: „Jetzt müssen wir viel früher investieren.“ Das bedeutet mehr Mut, aber auch mehr Risiko – aber die Aussicht, eines der künftigen Einhörner frühzeitig zu fangen, ist für viele eben dennoch verlockend.

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