Virtuelle Kraftwerke für die Energiewende Energieriese Shell übernimmt Kölner Start-up Next Kraftwerke

Köln · Der Klimawandel zwingt den Ölkonzern zu einem radikalen Kurswechsel. Das Kölner Unternehmen passt dabei perfekt ins Konzept. Denn ausgerechnet im Braunkohle-Land NRW ist mit Next Kraftwerke ein Hoffnungsträger für eine saubere Zukunft entstanden.

 Vom Tankstellen-Betreiber zum Ökokonzern - Shell wandelt sich auch durch Zukäufe.

Vom Tankstellen-Betreiber zum Ökokonzern - Shell wandelt sich auch durch Zukäufe.

Foto: dpa/Kirsty Wigglesworth

Knapp 25 Jahre ist es her, dass Shell-Tankstellen boykottiert wurden, nachdem Pläne des Öl-Konzerns bekannt wurden, die Bohrplattform Brent Spar im Meer zu versenken. Shell to hell, war damals die Devise vieler Aktivisten. Eine Kampagne unter dem Motto „Das wollen wir ändern“ über Umwelt- und Sozialaktivitäten des Konzerns wirkte 1995 für viele eher wie der Versuch, sich ein sauberes Image zu kaufen als sich wirklich zu wandeln.

Und heute? Da versucht der Konzern auch durch gezielte Zukäufe immer stärker im Bereich der erneuerbaren Energien zu wachsen. Europas größter Öl- und Gaskonzern mit der bekannten gelben Muschel als Logo will grün werden – denn durch den Klimawandel und das drohende Ende des Öl-Zeitalters steht die Zukunft des Unternehmens auf dem Spiel.

Insofern passt die neueste Übernahme hervorragend. Am Donnerstag gab der Konzern den Kauf von Next Kraftwerke bekannt, einem der größten Betreiber virtueller Kraftwerke, für die Biogas-, Solar- und Windkraftanlagen vernetzt werden. Das 2009 in Köln gegründete Start-up steuert europaweit inzwischen mehr als 10.000 Anlagen und setzt den erzeugten Strom im Auftrag der Kunden auf den Großhandelsmärkten ab. Es ist nach der Übernahme des bayerischen Energiespeicher-Unternehmens Sonnen im Jahr 2019 bereits der zweite deutsche Anbieter sogenannter virtueller Kraftwerke, der sich dem Shell-Konzern anschließt.

 Hendrik Sämisch (links) und Jochen Schwill haben 2009 Next Kraftwerke gegründet.

Hendrik Sämisch (links) und Jochen Schwill haben 2009 Next Kraftwerke gegründet.

Foto: Next Kraftwerke/Jennifer Braun

Doch während Sonnen auf die Vernetzung von Solaranlagen auf Eigenheimen setzt, agiert Next Kraftwerke mit der Vernetzung von Solarparks und Co. in größeren Dimensionen. Die einzelnen Anlagen werden über die digitale Plattform der Kölner zusammengeschlossen zu einem virtuellen Kraftwerk. Die Anlagenbetreiber bekommen anschließend für den gelieferten Strom eine feste Vergütung, das Start-up wiederum verkauft den Strom weiter – und verdient an der Differenz. Hinzu kommen Zahlungen von Netzbetreibern, wenn Next Kraftwerke mit seiner Leistung hilft, Stromschwankungen auszugleichen.

Knapp 680 Millionen Euro Umsatz hat das Unternehmen so insgesamt im Jahr 2019 gemacht, wobei der Großteil an die Energieerzeuger weitergereicht wurde. Unter dem Strich blieb dadurch am Ende sogar ein kleines Minus von 127.000 Euro. Im vergangenen Jahr, heißt es im Unternehmen, sei man allerdings weiter gewachsen und profitabel gewesen.

„Wir sind aus einer Phase der Stärke heraus auf die Suche nach weiteren Gesellschaftern gegangen“, betont Next-Kraftwerke-Gründer Hendrik Sämisch. Er hatte das Start-up 2009 gemeinsam mit Jochen Schwill gegründet, nachdem die beiden die Idee am Energiewirtschaftlichen Institut an der Universität zu Köln entwickelt hatten. Den Aufbau des Unternehmens hatten die beiden Gründer anschließend mit Unterstützung von Investoren wie dem Bonner Hightech-Gründerfonds oder Neuhaus Partners vorangetrieben. „Wir haben früh geschafft, schwarze Zahlen zu schreiben und konnten dadurch aus eigener Kraft wachsen“, begründet Hendrik Sämisch, warum es anders als bei anderen Start-ups in den vergangenen Jahren keine Nachrichten über Millionensummen gab, die in diversen Finanzierungsrunden in das Unternehmen gepumpt wurden.

Das offenbar effiziente Wachstum zahlt sich auch für die Investoren aus. Die Gründer hielten zuletzt noch jeweils knapp elf Prozent am Unternehmen. Für den Hightech-Gründerfonds ist der Verkauf der Anteile nach eigenen Angaben sogar der drittgrößte sogenannte Exit in der Geschichte. Der Einsatz habe sich mehr als verzwanzigfacht, heißt es. Vermutlich dürfte Shell also einen sehr hohen zweistelligen bis niedrigen dreistelligen Millionenbetrag bezahlt haben. Äußern wollte sich dazu niemand, zum Kaufpreis wurde Stillschweigen vereinbart – zumal die Übernahme unter Vorbehalt steht, weil die Kartellbehörden noch zustimmen müssen.

Laut Hendrik Sämisch war der Verkauf an Shell dabei eine strategische Entscheidung. „Es wird eine 100 Prozent CO2-freie Welt geben in Zukunft – und die Möglichkeiten, die sich auf diesem Weg ergeben, wollten wir gerne mit einem großen Partner angehen“, sagt der Gründer: „Wir werden aber auch in Zukunft als nicht-integriertes Unternehmen unabhängig arbeiten.“ Die Gründer werden daher auch weiterhin die Geschäfte führen und das Team von inzwischen mehr als 180 Mitarbeitern leiten.

Theoretisch wäre angesichts des starken Wachstums und der Bedeutung der Energiewende für die Erreichung der Klimaziele wohl auch ein Börsengang denkbar gewesen. Gerade für die Bestandsinvestoren können diese sehr attraktiv sein, weil oft ein Großteil der Wertentwicklung erst nach der Platzierung der Aktien erfolgt – wie man gut an prominenten Beispielen wie dem Kochboxen-Versender Hellofresh erkennen kann. Aus Sicht von Shell macht der Zukauf hingegen strategisch viel Sinn. David Wells, Vize-Präsident von Shell Energy Europe, freut sich jedenfalls: „Die Akquisition von Next Kraftwerke wird die Strategie von Shell beschleunigen, das Portfolio durch den Zukauf kleinerer Unternehmen aus dem Bereich der Erneuerbaren Energien zu vergrößern.“

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