Virtuelle Realität in der Industrie Früher war die Zukunft teurer

Magdeburg · Auf der Hannover Messe beschworten in dieser Woche internationale Unternehmen die Industrie der Zukunft herauf. Unser Autor hat das Fraunhofer Institut in Magdeburg besucht und ist von dort in die Zukunft der Wirtschaft gereist.

 Mitarbeiter des Fraunhofer IFF in Magdeburg in der CAVE

Mitarbeiter des Fraunhofer IFF in Magdeburg in der CAVE

Foto: Fraunhofer IFF/Dirk Mahler

Ich betrete die Zukunft in Filzpantoffeln. Hier oben auf dem Verladekran stellt sich schnell ein Gefühl des Unbehagens ein. Ich habe zwar keine Höhenangst, aber ich habe eben noch nie auf einem Dutzende Meter hohen Verladekran gestanden - und schon gar nicht scheinen mir Hausschuhe die richtige Bekleidung für den Stand auf einem Gitter. Auf meiner Nase balanciere ich neben der gewohnten Brille noch ein zweites Gestell. Die zweite Brille schmücken mehrere zehn Zentimeter lange Stäbe mit darauf angebrachten weißen Kugeln. Über meine eigene Brille lässt sich sicher auch streiten, aber jetzt sehe ich aus wie ein mutiertes Insekt. Die Forscher vom Fraunhofer Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung (IFF) in Magdeburg sind aber wohl der Meinung, dass ich mit der Brille besser beurteilen könnte, ob die Kanzel im Verladekran richtig montiert wurde.

Neben mir sind noch acht Computer an der Analyse des Verladekrans beteiligt. Sie projizieren Bilder über Kameras auf vier Tafeln, die einen Raum bilden. Drei Wände und der Boden bilden zusammen ein Bild, das Forscher, Produktentwickler und Besucher in eine Situation versetzen, die so in der Realität noch nicht stattgefunden hat. In dieser digitalen Höhle wandert der Betrachter durch die Zukunft. Dabei ist die Ausstattung der CAVE ("Cave Automatic Virtual Environment" (deutsch: "Höhle mit automatisierter, virtueller Umwelt")) heute längst nicht mehr so exotisch wie noch vor 15 bis 20 Jahren, erinnert sich Marco Schumann. "Damals mussten wir noch teure Großrechner zusammenstellen lassen", sagt er. Schumann leitet das Geschäftsfeld "Virtuell Interaktives Training" am Fraunhofer IFF. Heute nutzen Betreiber solcher Räume handelsübliche Computer, wie sie auch passionierte Computerspieler nutzen.

 Unser Autor in der CAVE am Fraunhofer Institut in Magdeburg.

Unser Autor in der CAVE am Fraunhofer Institut in Magdeburg.

Foto: Mahler

Forschung wie im Ego-Shooter

Als mich ein Mitarbeiter des Fraunhofer Instituts mit ein paar Klicks am PC in einen anderen virtuellen Raum versetzt und ich selbstständig durch die abgebildeten Wände laufe, fühle ich mich wie in einem Computerspiel. Ich kann auf einmal nur noch an die Buchstabenkombination "idspispopd" denken. Mit diesem Code konnte man im Ego-Shooter-Spiel "Doom" durch Wände laufen. Als ich durch eine Wand gelaufen bin, stehe ich in einer riesigen Fertigungshalle. Ich nehme mir jedoch keine Waffe, wie in einem Ego-Shooter, sondern einen Akku-Bohrer und ziehe eine Schraube an einer Turbine fest. Die Computerfigur neben mir schaut mich freundlich an. In ihrem Gesicht suche ich nach Hinweisen darauf, ob ich diesen Arbeitsschritt richtig durchgeführt habe, schließlich soll ich in der Halle prüfen, ob die Werkbänke richtig stehen. In der Realität hätte mir wohl ein Mechaniker der Firma Schiess sehr deutlich seine Meinung zu meinen unbeholfenen Versuchen am Akkuschrauber gesagt. Vermutlich hätte man mich wohl auch ähnlich freundlich der Halle verwiesen.

Die Firma Schiess ist einer der Kunden des Fraunhofer Instituts in Magdeburg. Das Maschinenbauunternehmen hat im CAVE Anordnungen in der Montagehalle testen lassen. Neben der Firma Schiess haben auch VW, der Landmaschinenhersteller John Deer oder der Flugzeugbauer Airbus die Hilfe aus Magdeburg in Anspruch genommen. Airbus ließ für Testzwecke eine komplette Flugzeugkabine im digitalen Raum nachbauen. Aber auch in der Verbrechensbekämpfung und in der Medizin kommen Systeme der virtuellen Realität zum Einsatz.

Wie sich das FBI von Tatort zu Tatort beamt

Das FBI in den USA etwa nutzt einen CAVE, der mit Daten aus Überwachungskameras und Wetterstationen gefüttert wird. Der Ermittler im CAVE kann sich dann etwa direkt an einen Tatort versetzen lassen. Teilweise kann er sogar einen Täter live verfolgen, der beispielsweise am Bahnhof Grand Central Terminal in Manhattan flüchten will. Die CAVE des FBI ist auch mit Wassersprinklern und Luftdüsen ausgestattet. Der Ermittler in der Virtualität kann also seinen Kollegen, die noch nicht am Tatort angekommen sind, Hinweise darauf geben, ob es vor Ort regnet und es an einer bestimmten Stelle glatt ist.

In der Medizin hingegen wird die virtuelle Realität vor allem eingesetzt, um Angststörungen zu behandeln. Patienten können sich am Computer ihren Phobien vor Spinnen, vorm Fliegen oder engen Räumen stellen, ohne dafür eine Reise antreten zu müssen.

Meine Reise in die Zukunft wird immer dann unterbrochen, wenn ich meine Spezialbrille abnehme. Wie im 3-D-Kino sehe ich ohne Brille, dass mir das Bild von dem Verladekran auf der Leinwand die dritte Dimension nur vorgaukelt. Ich sehe dann alle Linien doppelt: die Geländer am Kran, die Umrisse eines Frachtschiffes und die Elbe. Weil mich die doppelten Linien irritieren und ich noch eine Aufgabe zu erfüllen habe, setze ich schnell wieder meine Insektenbrille auf. Jetzt sehe ich auch deutlich, dass die Kanzel des Verladekrans einen Boden hat, der teilweise durchsichtig ist. Ich kann also genau erkennen, was unter mir passiert. Das ist nicht unpraktisch, wenn man mehrere Tonnen schwere Container am Haken hat.

CAVE ist keine Spielerei

Bei der Arbeit im CAVE geht es immer auch um die Frage, wer hier getestet wird: der Mensch oder die Maschine? "Es wird das Zusammenspiel von Mensch und Technik getestet”, sagt Marco Schumann. Die CAVE ist also keine Innovation um des reinen Fortschritts Willen. In der virtuellen Realität können Industriearbeiter die Arbeit an Geräten und in Umgebungen trainieren, die so noch nicht existieren. Im wesentlichen gibt es dabei zwei Anwendungsfelder. Zum einen kommt die CAVE in Branchen zum Einsatz, deren Produkte einen geringen Produktlebenszyklus haben. In der Automobilbranche erscheinen zum Beispiel so gut wie jährlich neue Versionen einer Fahrzeugklasse. In der virtuellen Realität spart man in der Entwicklung Geld und Zeit. "Und der zweite große Fall, in dem eine CAVE zum Einsatz kommt, sind Branchen, in denen ein misslungener Test mit einem Prototyp schwerwiegende Folgen haben könnte”, sagt Marco Schumann. In der Luftfahrt- und der Chemieindustrie etwa können fehlgeschlagene Tests in der Realität Menschenleben kosten und ganze Betriebe zerstören.

Aber auch in der CAVE kann einiges kaputt gehen. Darum trage ich auch die Filzpantoffeln - schließlich ist der Boden eine der Leinwände, die nicht zerkratzt oder zerstört werden sollten. Auch den Joystick und die Spezialbrille behandele ich mit viel Vorsicht. Schon beim Betreten des Labores waren mir auch die vielen vermutlich sehr teuren Monitore aufgefallen. Einen der größten hatte ich zunächst für ein riesiges Whiteboard gehalten — eine dieser Tafeln auf die man mit Filzstiften zeichnet. Auf dem Bildschirm ist jetzt das Modell einer Landschaft zu sehen, durch die eine Stromtrasse verlaufen soll. Auch wenn virtuelle Modelle in der Regel günstiger sind als die Vorläufer aus Kunststoff, Papper oder Ton, ist die Arbeit mit der virtuellen Realität noch nicht preiswert. Die Kosten für dieses Modell beziffert Marco Schumann auf fünf Mann-Monate. Oder anders ausgedrückt: der Auftraggeber aus der Energiebranche hat sich das Modell in etwa so viel kosten lassen, wie ein Ingenieur am Fraunhofer IFF in fünf Monaten verdient. Dennoch gilt: früher war die Zukunft teurer.

Die Zukunft der virtuellen Realität

Wenn es nach Marco Schumann geht, werden Anwendungen der virtuellen Realität in Zukunft in immer mehr Bereichen zum Einsatz kommen und stetig günstiger. Die Planung von großen Infrastrukturprojekten könnte in der virtuellen Realität begleitet werden. Anwohner hätten dann schneller eine Vorstellung von dem Bauprojekt in ihrer Nachbarschaft, so Marco Schumann. Vor allem aber in der Arbeitsmedizin und in der Wahrnehmungspsychologie soll in der CAVE die Frage beantwortet werden: Wie wirken bestimmte Arbeitsabläufe auf den Menschen?

Gut möglich, dass der Indutriemechaniker der Zukunft neben einem Paar Sicherheitsschuhe auch immer häufiger ein Paar Filzpantoffeln bei der Arbeit tragen wird.

(ac)
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