Werner Müller ist tot Trauer um den letzten Ruhrbaron

Essen · Werner Müller war ein Wanderer zwischen den Welten. Als Wirtschaftsminister verhandelte er den Atomausstieg, als Energiemanager dachte er das Ruhrgebiet neu. Die Schließung der letzten Zeche erlebte er noch. Nun ist er gestorben.

 Werner Müller im Jahr 2016.

Werner Müller im Jahr 2016.

Foto: dpa/Roland Weihrauch

Als Werner Müller im April 2018 den Landesverdienstorden bekam, wusste er bereits, dass seine Tage gezählt sind: „Ich hoffe, dass ich den Orden noch lange tragen kann. Da ich aber heftig erkrankt bin, weiß ich, dass ich den Platz in absehbarer Zeit freimachen kann für andere Ordensträger.“ Den Gästen der Feierstunde in der Staatskanzlei stockte der Atem. Doch so war Müller schon immer: Bei allen kühnen Visionen immer auch ein Realist. Nur so einer konnte vielleicht die Wirtschaft von Nordrhein-Westfalen neu denken und ein „Pionier für die Zukunft des Ruhrgebiets“ sein, wie Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) sagt. In der Nacht zum Dienstag ist Müller mit 73 Jahren seinem Krebsleiden erlegen. „Mit Werner Müller verliert Nordrhein-Westfalen einen herausragenden Unternehmenslenker und Visionär. Er war ein Vordenker und ein leuchtendes Vorbild der Sozialen Marktwirtschaft“, so Laschet.

Bis zuletzt hat der Manager Strippen gezogen, Wissenschaft und Kultur gefördert und die Politik beraten. Wie vieles im Ruhrgebiet sei auch der sozialverträgliche Kohleausstieg von Müller angeschoben worden, lobte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 21. Dezember 2018, als mit Prosper Haniel die letzte deutsche Steinkohle-Zeche schloss. Wie Steinmeier freuten sich viele Gäste, dass Müller beim wehmütigen Abschied in Bottrop dabei sein konnte.

Spätestens seit dem Tod von Krupp-Legende Berthold Beitz 2013 war Müller der letzte Ruhrbaron. Ein Titel, der Müller einerseits schmeichelte, den er andererseits aber unpassend fand: Von protzigem Auftreten hielt er so gar nichts. Müller war Zeit seines Lebens schlank und dezent, er sprach leise statt laut. Seine viele Kämpfe focht er mit dem Florett, nicht mit dem Schwert.

Seinen ersten Job fand Müller beim Energieriesen RWE – ungewöhnlich für einen Sprachwissenschaftler. Eigentlich hatte Müller sich das ohnehin alles ganz anders gedacht. Als junger Mann wollte der gebürtige Essener Pianist werden. Bedingt durch den Beruf des Vaters, der Ballistiker bei der Bundeswehr war, zog die Familie nach Meppen. Während seine Mitschüler den Rock’n Roll entdeckten, begeisterte sich Müller für Bach und besuchte das Konservatorium. Doch für eine Pianisten-Karriere reichte es nicht: Beim Spielen vor Publikum zitterten seine Hände. Als der Vater erneut versetzt wurde, zog Müller zu einem Mitschüler, um das Gymnasium zu Ende machen zu können. Noch als berühmter Manager traf er sich mit alten Freunden aus dem Emsland.

Statt ans Klavier setzte Müller sich an einen anderen Dreiklang. Er studierte Volkswirtschaft, Philosophie und Linguistik. Seinen ersten richtigen Job fand er beim Stromriesen RWE – ungewöhnlich für einen Sprachwissenschaftler. Ungewöhnlich unabhängig ging er auch seine Aufträge an: Eigentlich sollte er für seinen Arbeitgeber Marktforschung betreiben. Dabei erkannte er, dass dessen Geschäftsmodell auf Sand gebaut war. Er schrieb das Buch „Entkoppelung“ und prophezeite, dass der Energieverbrauch nicht mehr parallel zur Wirtschaft wächst. Ein Tabubruch: Die Branche hatte bis dahin geglaubt, dass sich der Verbrauch alle zehn Jahre verdoppelt. Zudem mahnte Müller, auch die Nutzung der Natur zu bepreisen. Und dabei waren die Grünen noch nicht mal auf der Welt.

RWE stellte Müller kalt, er nutze die Zeit, um in Linguistik zu promovieren. Mit 33 Jahren wechselte er zum RWE-Konkurrenten Veba und ging bei Konzernchef Rudolf von Bennigsen-Foerder in die industriepolitische Lehre. Veba war damals ein Milliarden-schwerer Gemischtwarenladen, dem Chemie, Stahlhandel, Immobilien, Kohle- und Atomkraftwerke gehörten. Müller war als Leiter der Stababteilung die rechte Hand von Bennigsen-Foerderer. Zu seinen Mitarbeitern gehörten Klaus Engel, später Evonik-Chef, und Rolf Martin Schmitz, heute RWE-Chef. So hängen in der Ruhrwirtschaft alle mit allen zusammen – bis heute.

Bennigsen-Foerder animierte Müller zum Querdenken. Das führte dazu, dass der – eigentlich Befürworter der Atomkraft – den Ausstieg aus der Kernenergie empfahl. Tschernobyl, Proteste und Ärger um die Aufbereitungsanlage Wackersdorf hatten Veba-Chef und Kronprinz nachdenklich gemacht.

Gerhard Schröder nahm Müller in die Pflicht 1989 starb Bennigsen-Foerder überraschend an einer Lungenentzündung. Müller verlor seinen Mentor und wurde mit 51 Jahren erneut kalt gestellt – nun von den Atomkraft-Fans der Veba. Der Vater zweier Kinder zog sich ins Familienleben in Mülheim zurück, ging mit seiner Frau in den Alpen wandern und spielte Klavier. Doch kaum war er Privatier geworden, bat ihn Gerhard Schröder, Minister zu werden. Müller lehnte ab. Als Schröders Alternative, der forsche Unternehmer Jost Stollmann, über sich selbst stolperte, nahm Schröder Müller in die Pflicht. Der erste Kanzler einer rot-grünen Regierung machte ihn 1998 zum Minister für Wirtschaft und Technologie: Müller (parteilos), den Zusatz mochte er.

Müller verhandelte für Schröder das rot-grüne Vorzeigeprojekt: den Atomausstieg. In zähen Verhandlungen mit der Industrie war Umweltminister Jürgen Trittin der „bad guy“, Müller der „good guy“. Tatsächlich aber schätzten sich beide. Als Trittin wegen einer Attacke gegen den damaligen CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer („Er hat die Mentalität eines Skinheads und nicht nur das Aussehen“) unter Druck geriet, sprang Müller öffentlich für den Grünen in die Bresche. Zugleich wurde der erste Atomausstieg wurde beschlossen – den Angela Merkel später kassierte.

Auch Müller selbst sorgte für Wirbel. Nachdem das Kartellamt Eon die Übernahme von Ruhrgas untersagt hatte, beantragte der Veba-Nachfolger eine Ministererlaubnis. Müller übertrug die Aufgabe zwar seinem Staatssekretär Alfred Tacke, der grünes Licht gab. Doch es blieb dabei, dass Müllers Haus dem früheren Arbeitgeber des Ministers half.

2002 wurde Rot-Grün wiedergewählt. Doch Müller verzichtete auf eine zweite Amtszeit. Schröder konnte ihn an anderer Stelle gut gebrauchen: als neuer Chef des Zechenkonzerns RAG und seiner 80.000 Mitarbeiter. Die RAG gehörte zwar Eon, RWE, Thyssenkrupp und ArcelorMittal. Doch vor allem lebte die RAG vom Staat. Denn die in 1000 Meter unter dem Ruhrgebiet geförderte Steinkohle war auf dem Weltmarkt ohne Milliarden-Subventionen nicht wettbewerbsfähig.

Wieder war es Müller, der das Drehbuch für einen sozialverträglichen Ausstieg schrieb. Die Gesellschaft war immer weniger bereit, zu zahlen. Immer mehr Zechen mussten schließen. Bergleute hatten Angst um ihre Arbeitsplätze und gingen auf die Straße. Wieder kam eine Technologie an ihr Ende. Und wieder war es Müller, der das Drehbuch für einen sozialverträglichen Ausstieg schrieb. Mit Betriebsrats-Chef Ludwig Ladzinski und Gewerkschaftschef Hubertus Schmoldt traf er sich zu geheimen Runden. Gesprächsweise muss alles denkbar sein, hieß die Devise. Daraus wurde ein Drehbuch und Müller setzte es bei Eigentümern und Politik durch: Der RAG-Konzern wurde aufgespalten in einen schwarzen Bereich, die Bergwerke, und einen weißen Bereich – die Chemie (Degussa), Energie (Steag ) und Immobilien. Den weißen Teil straffte Müller und brachte ihn 2007 als Evonik AG an den Start. Ein neuer Ruhrriese war geboren und Müller wurde sein erster Chef. Zugleich wurde die RAG-Stiftung gegründet. Die Industriekonzerne übertrugen ihre Anteile und wurden im Gegenzug von den Ewigkeitslasten (Abpumpen der Gruben) freigestellt. Die Gewerkschaften stimmten dem Ende der Steinkohle bis 2018 zu. 2018, weil nur so ein Ausstieg ohne Kündigungen machbar war.

NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers ging das nicht weit genug, er wollte viel schneller ausstiegen. Aus Müller und Rüttgers wurden erbitterte Gegner. Da schickte die IG BCE Tausende Bergleute zur Demonstration nach Düsseldorf. Rüttgers musste auf Druck der Kanzlerin beidrehen, doch er verhindert noch über Jahre, dass Müller Chef der RAG-Stiftung wurde. 2012 – Rüttgers war schon wieder Geschichte – wird Müller es im zweiten Anlauf dann doch. Es ist die Krönung seines Lebenswerks. Das zeigt sich auch im Kleinen: Im Panini-Album zum Ende des Bergbaus ist gleich das dritte Sammelbild Werner Müller. Er wäre auch gerne Aufsichtsratschef bei RWE, seinem alten Arbeitgeber, geworden. Doch die Kommunen, die ihn durchsetzen wollten, vergeigten das.

Der Ausstiegsplan dagegen funktioniert: Kein Kumpel fällt ins Bergfreie, die Subventionen finden ein Ende. Müller fasste es später so zusammen: „Ich bin noch nie irgendwo im Bergbau beschissen worden.“

Bis zum Schluss hatte Müller kein Handy. Wer ihn sprechen wollte, musste seine Frau oder seinen Fahrer anrufen. Müller machte bis zum Schluss Politik bei Rotwein und gutem Essen. Er blieb konservativ im Stil, trug auch im Sommer Dreiteiler und duzte selbst enge Wegbegleiter wie Evonik-Chef Christian Kullmann nicht. Doch Zukunft dachte er wie kein anderer in NRW. „Ohne Werner Müller würde es Evonik nicht geben. Wir sind ihm bleibend dankbar und verneigen uns in tiefer Trauer vor seinem Lebenswerk“, würdigte Kullmann seinen Mentor.

Als es auf Prosper Haniel am 21. Dezember „Letzte Seilfahrt“ hieß, war Müller dabei. Diesen Tag noch mitzuerleben, das hatte er gehofft und geschafft. Er stand in der ersten Reihe, als sieben Bergleute die letzte deutsche Steinkohle zu Tage förderten. An jenem Regentag nahm Deutschland Abschied von der Steinkohle. Nun muss es Abschied nehmen von dem Mann, der der Bergbau-Region den Weg in die Zukunft wies. Ein letztes Glückauf.

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