Weseler liebt seinen Beruf als Chemiker Warum Alexander Jezierski auch mit 72 noch zur Arbeit geht
Serie | Wesel · In Zeiten des Fachkräftemangels wollen und können viele Arbeitgeber nicht auf die Erfahrung von Mitarbeitern jenseits der 60 verzichten. So wie die Weseler Byk-Chemie. Alexander Jezierski, ihr ältester Mitarbeiter, ist schon über 70. Aktuell befindet er sich beruflich in den USA.
Kurz vor Weihnachten hatte Arbeitsminister Hubertus Heil bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Dass viele Firmen in Deutschland in Zeiten des Fachkräftemangels Menschen über 60 nicht mehr einstellen würden, sei eine Haltung, „die wir uns nicht mehr leisten können“, wurde Heil in einem Bericht der „Bild am Sonntag“ zitiert. Ältere Mitarbeiter würden über Erfahrung und Fachwissen verfügen. Das sei an vielen Stellen mehr wert als die oft geforderte Schnelligkeit. Gründliches Arbeiten führe zu weniger Fehlern. Hubertus Heil wünscht sich deshalb, dass mehr Arbeitgeber als bislang dies erkennen und Älteren eine Chance auf dem Arbeitsmarkt geben würden.
Ein Unternehmen, das die Qualitäten von älteren Arbeitnehmern zweifelsohne zu schätzen weiß und damit im Sinne des Arbeitsministers handelt, ist die Weseler Byk-Chemie (siehe Infobox). Das Unternehmen gehört zur Altana AG. Der Spezialchemie-Konzern, der ebenfalls in Wesel beheimatet ist, befindet sich in Besitz von Susanne Klatten. Die mittlerweile 60-Jährige gilt seit Jahren als reichste Frau Deutschlands und hat sich auch einen Namen als Unternehmerin gemacht, die in innovative Projekte investiert.
Von den derzeit 1154 Byk- beziehungsweise Altana-Mitarbeitern in Wesel sind 75 älter als 60 Jahre. Einer von ihnen ist sogar über 70. Um es genau zu sagen, ist Alexander Jezierski mittlerweile 72 Jahre alt. Wer den Diplom-Chemiker kennenlernt, kann kaum glauben, dass der sympathische und äußert agile Herr tatsächlich 1950 geboren wurde. „Doch, es ist wirklich so: Ich bin 72 und habe genau die Hälfte meines Lebens bei Byk verbracht. Und ich liebe meine Arbeit noch immer“, sagt er und lächelt. Auf dem Byk-Firmengelände an der Abelstraße, auf dem er viele Jahre als Standortleiter tätig war, ist er allerdings nur sehr selten anzutreffen. Denn sein Wissen gibt er aktuell als Berater an seine Kollegen bei Byk in den USA weiter. Am Standort Wallingford, unweit von New York im Bundesstaat Connecticut, ist er, wie er augenzwinkernd sagt, „als Besserwisser beschäftigt“. Keine Frage, dass ihm diese Aufgabe, die er im Januar 2018 begonnen hat, große Freude bereitet. „Und sie hält jung.“ Das sieht man ihm auch an.
Dass viele Arbeitnehmer, auch in seinem Freundes- und Bekanntenkreis, so ab dem 60. Lebensjahr mit dem Gedanken spielen beziehungsweise gespielt haben, sich möglichst schnell in den Ruhestand zu verabschieden, kann Alexander Jezierski überhaupt nicht nachvollziehen. „Es kann einem doch nichts Besseres passieren, als einen schönen Job zu haben, der einen erfüllt.“ Und diese Einstellung teilt er auch mit seiner Frau, die selbst weit über das offizielle Renteneintrittsalter hinaus immer aktiv war. Er bedauert all jene, die sich Tag für Tag mehr oder weniger zur Arbeit schleppen. „Wer keinen Spaß an der Arbeit hat, hat auch meist keinen Spaß am Leben.“
Alexander Jezierski stammt aus einer Warschauer Familie. Der Vater war Jurist, seine Mutter unter anderem als Lehrerin tätig. Dass beide auch nach ihrer Pensionierung noch einige Jahre tätig waren, muss niemanden überraschen. Schon früh packte den jungen Studenten das Fernweh. Weil es aus dem Osten damals praktisch nicht möglich war, in den Westen zu reisen, ergriff Alexander Jezierski Anfang der 70er-Jahre die Chance, in Ostdeutschland sein Chemiestudium zu beenden. Genauer gesagt in Merseburg, wo er auch seine Doktorarbeit geschrieben und seine spätere Frau kennengelernt hat, die damals als Uni-Sekretärin tätig war. Sie heirateten, bekamen ihre erste Tochter. Während Frau und Kind in Merseburg blieben, ging es für ihn zurück nach Warschau. Die Eheleute führten also eine echte Fernbeziehung. Dann kam das Jahr 1985, in dem die zweite Tochter zur Welt kam. Mit einem Touristenvisum reiste der mittlerweile 35-jährige Doktor der Chemie in seinem Fiat Bambino nach Westdeutschland, wo er in Kassel bei einer Tante und deren Familie unterkam. Eigentlich wollte er bei einem Unternehmen in Rheinland-Pfalz anheuern. Doch weil man, wie Jezierski sagt, dort befürchtete, dass er womöglich ein Spion sei, zerschlug sich die ganze Sache. Dafür hatte er mit einem Stellengesuch in einer Fachzeitschrift mehr Erfolg. Unter anderem zeigte die Byk-Chemie Interesse. „Ein Freund aus Merseburger Zeiten meinte, dass Byk eine gute Firma sei und ich sie mir unbedingt ansehen solle“, erzählt Alexander Jezierski. Spätestens nach dem, wie er sagt, „beeindruckenden“ Gespräch mit dem damaligen Byk-Chef Klaus Oehmichen, stand für ihn fest: „Hier gefällt es mir, hier will ich ein neues Leben beginnen.“ Wenige Tage später, am 1. Juli 1986, hatte er seinen ersten Arbeitstag an der Abelstraße. „Wenn ich daran zurückdenke, kann ich nur sagen, dass ich hier ein zweites Mal geboren bin. Ich hatte wirklich Glück und habe hier eine wunderbare Unternehmenskultur kennengelernt.“ Bei Byk habe er so arbeiten können, wie er sich das immer erträumt habe. „Ich wurde von meinen Eltern im Sinne der christlich-abendländischen Werte erzogen. Es war so befreiend für mich, zu sagen und auch zu tun, was ich für richtig halte. Diese Art der Firmenkultur ist ein wichtiger Pfeiler des Erfolgs. Es ist meine Firma.“
Womit er Byk meint und nicht nur Byk in Wesel. Insgesamt auf sieben Posten hat er sich bewährt, unter anderem mehrere Jahre in Wesel die Abteilung Technische Planung und Entwicklung geleitet und dabei ein Konzept zur Produktionserweiterung entwickelt. Ein wenig stolz ist er schon darauf, dass fast alle Gebäude, die in den Jahren zwischen der Bahnlinie und der Abelstraße entstanden sind, von ihm mit geplant wurden. „Das sind meine Babys“, sagt er lachend.
Auch in Kempen bei Krefeld war er von 2007 bis 2016 im dortigen Byk-Werk als Standortleiter tätig. Mit 66 sollte er eigentlich in den Ruhestand gehen. Doch dann bekam er das Angebot, für ein Jahr als „Besserwisser“ in ein 2013 von Byk erworbenes Chemiewerk nach Schkopau in Sachsen-Anhalt zu gehen. Unter anderem half er damals bei der Optimierung der Produktionsprozesse. Nach zwölf Monaten dort wurde er gebeten, für ein Jahr übergangsweise nach Kempen zurückzukehren, was er auch gerne getan hat.
Als Alexander Jezierski dann erfuhr, dass es bei Byk in den USA eine Vakanz gebe, nahm er auch diese Herausforderung an. „Obwohl ich kein Englisch gesprochen habe damals. Aber mir war klar, dass ich das lerne.“ Bei Byk in Wallingford hat er zunächst den neuen Werksleiter bei seiner Einarbeitung unterstützt und dann nach Rücksprache mit seiner Frau erneut „ja“ gesagt, als man ihn bat, um ein weiteres Jahr zu verlängern. Mittlerweile ist er also seit mehr als fünf Jahren in den USA und hat seinen Vertrag kürzlich nochmals um zwei Jahre verlängert. Mit 74 soll dann aber wirklich Schluss sein. Und dann? „Wenn die Gesundheit es zulässt, werde ich als Skilehrer in den Wintermonaten in Österreich anfangen.“ Das sagt er zwar schon mit einem verschmitzten Lächeln, meint es aber trotzdem ernst. Denn er ist nicht nur ein anerkannter Chemiker mit Führungsqualitäten, sondern auch ein wirklich guter Skifahrer. Und das schon als Student in Polen. „Hätte ich diesen Sport als Kind schon auf Wettkampf-Niveau betrieben, hätte ich es im Skisport sicher weit gebracht“, ist Alexander Jezierski überzeugt. Er ist übrigens seit vielen Jahren Mitglied im Ski-Club-Wesel und fährt bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit Arbeitskollegen in das Mini-Skigebiet von Wallingford, nur gut zehn Minuten von der Firma entfernt. Im März will er sich einen Jugendtraum erfüllen und mit Byk-Mitarbeitern zum Skifahren in die Rocky Mountains reisen.
Nur kurze Zeit nach dem Gespräch mit unserer Redaktion in der Weseler Altana-Zentrale, ist Alexander Jezierski wieder nach New York geflogen, um bei Byk in Wallingford das zu machen, was er – neben dem Skifahren – am liebsten macht: sein Wissen und seine Erfahrungen an die jüngere Generation weitergeben.