Umweltgruppen dürfen gegen Industrie klagen

Im Streit um das Kohlekraftwerk Lünen hat der Europäische Gerichtshof ein Grundsatz-Urteil gefällt: Umweltverbände dürfen nun auch selbst vor Gericht ziehen. Die Industrie fürchtet eine Klageflut gegen Industrieprojekte. Das könnte die Energiewende behindern.

Straßburg Bislang war Umweltorganisationen, die Kraftwerke, Gas-Pipelines oder Strommasten bekämpfen wollen, der Weg über die Gerichte verwehrt. Denn bislang konnten in Deutschland nur persönlich betroffene Bürger Widerspruch gegen Genehmigungen von Industrieprojekten einlegen. Das soll nun sich nach einem Grundsatz-Urteil des Europäischen Gerichtshofes (AZ: C-115/09) ändern. Die obersten europäischen Richter urteilten gestern, dass Umweltorganisationen auch als Vertreter der Allgemeinheit klagen dürfen, wenn es um erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt gehe. Die EU-Mitgliedsstaaten müssten der betroffenen Öffentlichkeit einen weiten Zugang zu Gerichten gewähren.

Im konkreten Fall ging es um den Bau des Steinkohlekraftwerkes im westfälischen Lünen, das der Stadtwerke-Verbund Trianel betreiben und das einmal 1,6 Millionen Haushalte mit Strom versorgen soll (Investitionsvolumen: 1,4 Milliarden Euro). Die Bezirksregierung Arnsberg hatte den Bau im Mai 2008 genehmigt. Dagegen legte der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) Widerspruch beim Oberverwaltungsgericht Münster ein, weil sich das Kraftwerk zu nah an einem Umweltschutz-Gebiet befinde und so die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie der Europäischen Union verletze. Die Verwaltungsrichter teilten die Bedenken des BUND. Sie bezweifelten aber, ob dieser klagen durfte, weil er ja nicht als Einzelperson in seinen Rechten bedroht sei, und baten den EuGH um Klärung. Die Straßburger Richter sagten nun: Ja, der BUND darf klagen – und verdonnerten Deutschland, die Klagemöglichkeiten von Umweltverbänden auszuweiten. Den Streit um Lünen selbst verwiesen sie nach Deutschland zurück.

Die Wirtschaft ist entsetzt über das Urteil, das Bedeutung für alle Großprojekte hat, die nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz genehmigt werden müssen. "Das Urteil erfüllt uns mit großer Sorge. Wir erwarten eine Klagewelle", sagte Udo Siepmann, Hauptgeschäftsführer der IHK Düsseldorf. Einseitig würden Umweltfragen Vorrang bekommen. "Wie soll die Energiewende in Deutschland gelingen, wenn nun der Bau von Windrädern und Stromtrassen in langwierigen Gerichtsverfahren verzögert wird?", sorgt sich Siepmann.

Erst recht dürfte der Bau neuer Kohlekraftwerke mit juristischen Mitteln bekämpft werden, auf die die Bundesregierung im Zuge des rascheren Ausstiegs aus der Atomkraft setzt.

Der Essener Energiekonzern RWE, der im rheinischen Niederaußem ein neues Braunkohlekraftwerk errichten will, erklärte zwar, er erwarte keine Auswirkungen für das eigene Geschäft. Die rechtlichen Rahmenbedingungen würden schließlich weiter gelten. Doch intern sieht man es mit großer Sorge, dass Politik und Gerichte Investitionen der Industrie zunehmend erschweren.

In der Tat wittert der BUND bereits Morgenluft. Die Umweltorganisation erklärte gestern, sie sehe sich bei ihren Klagen gegen die geplanten Kohlekraftwerke Hamburg-Moorburg (Vattenfall) und Datteln (Eon) gestärkt. "Setzt sich der BUND in den weiteren Verfahren durch, müssten die milliardenteuren Bauten wieder abgerissen werden", so der BUND mit Blick auf diese Anlagen.

Auch Nordrhein-Westfalens Umweltminister Johannes Remmel (Grüne) ist zufrieden: "Ich begrüße die Entscheidung. Mit dem Urteil ist nunmehr gewährleistet, dass umweltrelevante Entscheidungen umfassend gerichtlich überprüft werden können", erklärte Remmel. "Die bisherige Situation, dass teilweise Klagen abgewiesen werden mussten, obwohl das Umweltrecht verletzt war, ist damit beendet."

(RP)
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