Interview zum 1. Mai mit Rainer Dulger "Gewerkschaften sind in der Sinnkrise"

Düsseldorf · Der Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall über die Schwächen der Arbeitnehmerorganisationen, schärfere Regeln für Warnstreiks und Lohntransparenz.

Rainer Dulger: "Gewerkschaften sind in der Sinnkrise"
Foto: dpa

Seit 125 Jahren demonstrieren rund um den Globus Tausende Gewerkschafter am 1. Mai für eine bessere Arbeitswelt. Doch wie steht es um das Verhältnis von Unternehmern und Arbeitnehmervertretern? Ein Gespräch mit dem Präsident des mächtigen Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, Rainer Dulger.

Welches Lied der Arbeiterbewegung sorgt beim Gesamtmetall-Präsidenten für Gänsehaut?

Dulger (lacht) Da gibt es keines. Ich laufe nicht umher und pfeife die Internationale - da bin ich Unternehmer. Ich bin aber ein überzeugter Verfechter von Tarifautonomie und Sozialpartnerschaft mit starken Gewerkschaften. Wir haben in der Krise gezeigt, dass das System gut funktioniert, müssen jetzt aber seine Funktionstüchtigkeit in Wohlstandszeiten beweisen. Da mache ich mir im Moment große Sorgen.

Wieso so beunruhigt?

Dulger Ich habe die Befürchtung, dass die Gewerkschaften in einer Sinnkrise sind. Die Aufrufe zum 1. Mai sind ein Beleg dafür: Der DGB hat zehn oder elf verschiedene Plakate entworfen. Da fehlt es offenbar an klar identifizierbaren Themen.

Sie meinen, den Gewerkschaften gehen die Forderungen aus.

Dulger Viele Gewerkschafter definieren sich über den Kampf gegen Ausbeutung. Wir haben aber Rekordbeschäftigung, die Löhne steigen kräftig, die Inflation ist quasi bei null. Zusätzlich haben die Mitarbeiter auch noch ein sehr gutes Verhältnis zu ihren Arbeitgebern. Die Frage ist: Wie viel Raum bleibt da noch für Gewerkschaften? Die dauernde Angstrhetorik so mancher Gewerkschafter entspricht nicht der Realität.

Tatsächlich scheint es, als habe trotz der guten Wirtschaftslage die Streikbereitschaft zugenommen. Wie viel von der viel gelobten Sozialpartnerschaft ist denn noch übrig?

Dulger Über laufende Arbeitskämpfe in anderen Branchen möchte ich nicht urteilen. Aber auch in der Metall- und Elektroindustrie haben wir einen zu hohen Abschluss erzielt. Der Preis eines unbefristeten Streiks wäre aber noch höher gewesen. Die IG Metall hat sich diesmal unverantwortlich verhalten. Wir hatten faktisch flächendeckende Streiks, die von langer Hand geplant waren und völlig losgelöst vom Verhandlungsstand durchgezogen wurden. Das darf sich nicht wiederholen.

Benötigt Deutschland also klarere Streik-Spielregeln?

Dulger Wir haben ja ein Streikrecht, aber der Warnstreik ist eine Grauzone. Über diese müssen wir intensiv reden - und notfalls auch per Gesetz für Klarheit sorgen. Die Schäden, die durch diese Art von sogenannten Warnstreiks entstanden sind, waren zu groß.

Wenn wir über das Streikrecht reden, sind wir schnell beim Thema Tarifeinheit. Wie zuversichtlich sind Sie, dass die Regierung ein wasserdichtes Gesetz hinbekommt?

Dulger Nach allem, was bislang bekannt ist, wurden für das Gesetz vonseiten aller Ministerien ausreichende Anstrengungen unternommen, um eine rechtssichere Lösung hinzubekommen. Wir brauchen die Tarifeinheit, weil sich das Prinzip "ein Betrieb, ein Tarifvertrag" in den vergangenen 50 Jahren bewährt hat. In unserer Branche gibt es sehr komplexe Lieferketten. Wenn diese wegen Streiks abreißen, verlieren wir unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit. Unsere Konkurrenten im Ausland reiben sich vor Glück die Hände, wenn uns die Gewerkschaften mit Dauerstreiks aus dem Wettbewerb schießen.

Bei welchem Thema sehen Sie mit den Gewerkschaften künftig das größte Potenzial für Streit?

Dulger Wir müssen die Zukunft gemeinsam gestalten, und mir fehlen da echte Impulse vonseiten der Arbeitnehmer bei den Themen Demografie-Wandel und technologische Herausforderungen. Die Gewerkschaften wären gut beraten, nicht nur darauf zu schauen, was ihnen Aufmerksamkeit bringt, sondern auch, wie wir unsere Wettbewerbsfähigkeit stärken können. Da wünsche ich mir eine andere Rhetorik. Statt "Auf, Brüder, zur Sonne zur Freiheit" wäre es verantwortlicher zu sagen: "Auf, Brüder, zu mehr Wettbewerbsfähigkeit!"

Die Gewerkschaften sind am Thema aber dran und warnen, dass durch die Digitalisierung Arbeitsplätze verlorengehen könnten.

Dulger Bei dieser Diskussion sollten wir mal ein wenig Druck rausnehmen: Es geht bei der Industrie 4.0 nicht um eine Revolution, sondern allenfalls um eine Evolution. Viele Dinge sind zwar heute schon realisierbar, aber die Frage ist, ob der Markt das annimmt.

Sie haben davor gewarnt, dass die Lohnstückkosten hierzulande zu hoch seien. Dabei steht Deutschland doch oft in der Kritik, dass es zu viel Lohnzurückhaltung geübt hat.

Dulger Das mag für die Zeit der Krise gegolten haben. In den vergangenen fünf Jahren sind die Tariflöhne in der Metall- und Elektroindustrie aber um 16 Prozent gestiegen. Lohnzurückhaltung erkenne ich da nicht. Uns helfen gerade zwar der niedrige Euro und hervorragende Produkte. Wir können uns diese expansive Lohngestaltung aber nicht mehr leisten. Es ist jetzt schon so, dass ganze Baugruppen in Unternehmensstandorte im Ausland abwandern, weil sie nur dort kostendeckend produziert werden können. Diese De-Industrialisierung müssen wir stoppen.

Sie warnen in diesem Zusammenhang auch vor einer Überregulierung am Arbeitsmarkt. Was meinen Sie?

Dulger Die Unternehmen benötigen unbedingt ein Belastungsmoratorium. Dringend benötigte Flexibilisierungsinstrumente wie Zeitarbeit oder die Arbeitsteilung durch Werkverträge dürfen nicht durch Gesetzesverschärfungen erschwert werden.

Sind die schwarzen Schafe der Branche nicht selbst schuld, dass die Regierung bei dem Thema handeln will?

Dulger Schwarze Schafe gibt es leider immer und überall. Über diese werden wir nicht schützend unsere Hand halten. Wir sind gegen den Missbrauch von Zeitarbeit und Werkverträgen. Deshalb begrüßen wir den entsprechenden Verhaltenskodex, der von allen seriösen Zeitarbeitsunternehmen eingehalten wird. Es kann aber nicht sein, dass einzelne schwarze Schafe das Vertrauen in eine ganze Branche zerstören. Gesetzesverschärfungen dürfen nicht kommen.

Ministerin Schwesig hat außerdem ein Gesetz zur Gehaltstransparenz angekündigt. Was spricht dagegen, dass ich weiß, wie viel mein Kollege verdient, und umgekehrt?

Dulger So etwas stört hochgradig den Betriebsfrieden. Ein solches Gesetz ist schlicht unnötig. Was mich extrem stört: Es wird ein grundsätzlicher Lohnungerechtigkeitsgedanken unterstellt - auch bei Tarifverträgen. Und das ist Unsinn. Wenn wir die Lohnunterschiede beseitigen wollen, dann brauchen wir mehr Frauen in technischen Berufen. Dabei wäre jede Hilfe willkommen.

In Deutschland hat in den vergangenen 15 Jahren die Tarifbindung aber massiv abgenommen. Im Osten gilt nicht einmal mehr für die Hälfte aller Beschäftigten ein Tarifvertrag.

Dulger Rechnen Sie diejenigen dazu, die sich am Tarifvertrag orientieren, sind Sie wieder bei 80 Prozent.

Aber könnten Gesamtmetall nicht ein starkes Zeichen setzen und die Mitgliedschaften ohne Tarifbindung abschaffen?

Dulger Was würde das ändern? Keines dieser Unternehmen würde dann doch dem Tarifverband beitreten, sondern sich ganz aus der Organisation verabschieden. Es gibt Unternehmen, die sich dem Flächentarif nicht anschließen wollen, es gibt aber auch eine Reihe von Unternehmen, die den Metall-Tarifvertrag aus wirtschaftlichen Erwägungen nicht anwenden können.

Aber dafür haben Sie doch genügend Flexibilisierungsinstrumente.

Dulger Die reichen manchem aber nicht aus. Und die Koalitionsfreiheit im Grundgesetz bedeutet auch, sich gegen eine Mitgliedschaft entscheiden zu können.

MAXIMILIAN PLÜCK FÜHRTE DAS INTERVIEW.

(maxi)
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