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Die Zahl der Tarifauseinandersetzungen nimmt zu. Auch die Lohnforderungen und Lohnabschlüsse weisen ein im Vergleich zu früheren Jahren verändertes Bild auf. Im Durchschnitt steigen die Löhne nunmehr um knapp drei Prozent pro Jahr, während im vergangenen Jahrzehnt nur ein etwa halb so hoher Zuwachs pro Jahr erzielt wurde. Dies ist schon eine markante Veränderung, die spürbar positive Folgen in den Geldbörsen der Beschäftigten hinterlässt. Zugleich erheben sich aber auch warnende Stimmen, die von überzogenen Lohnforderungen und dem Verlust von internationaler Wettbewerbsfähigkeit sprechen.

Um die Lohnhöhe zu beurteilen, sind zwei Orientierungspunkte zu beachten. Der erste ist die trendmäßige Produktivitätsentwicklung, also der um Konjunkturschwankungen bereinigte Zuwachs an Leistungsfähigkeit für die Wirtschaft. Von dieser sollten sich die Lohnzuwächse auf Dauer nicht entfernen.

Der zweite Orientierungspunkt ergibt sich aus den Erfordernissen an die gesamtwirtschaftliche Preisstabilität, also der von der Europäischen Zentralbank als Ziel definierten Inflationsrate von etwa zwei Prozent. Nimmt man all dies zusammen, ergibt sich für Deutschland ein Spielraum für durchschnittliche Lohnerhöhungen von drei bis dreieinhalb Prozent pro Jahr, bei dessen Einhaltung weder die Wirtschaft in Deutschland überfordert noch das Inflationsziel verletzt würde. Vor diesem Hintergrund werden zwei Fakten deutlich. Erstens, selbst die gegenwärtigen Lohnzuwächse schöpfen diesen Spielraum noch nicht ganz aus. Es gibt noch etwas Luft nach oben.

Zweitens: Der Spielraum ist sogar über mehr als ein Jahrzehnt hinweg nicht ausgeschöpft worden. Das heißt, deutsche Unternehmen haben ständig an Wettbewerbsfähigkeit gewonnen, und die Gewinne haben sich prächtig ausgeweitet. Das hat sicher positive Effekte gehabt, wie sich an der kräftigen Exportkonjunktur ablesen lässt.

Die Schattenseiten werden aber oft verschwiegen. So haben die Einkommen der Beschäftigten inflationsbereinigt in diesem Zeitraum im mittleren und unteren Bereich stagniert oder waren rückläufig. Dies hat nicht nur die Ungleichheit in Deutschland stark wachsen lassen, sondern auch die Binnenkaufkraft mit negativen Folgen für Konsum und Wachstum geschwächt.

Zugleich war mit den auch im europäischen Maßstab sehr geringen Lohnzuwächsen das Entstehen von Handelsungleichgewichten verbunden, die die wesentliche Ursache der Krise des Euroraums ist. Und diese belasten gerade in dieser Zeit Einkommen und Beschäftigung auch in Deutschland sehr stark. Da hilft ein robuster binnenwirtschaftlicher Konsum, der auf soliden Lohnsteigerungen beruht.

(RP)
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