Schwerpunkt Europa Neue Macht der Euro-Politiker

Berlin Im Herbst 2009 hatte der SPD-Europapolitiker Martin Schulz einige Journalisten zu einem Hintergrundgespräch in Berlin getroffen. Schulz wollte über Europa reden. Doch die Medienvertreter hatten sich nur Fragen zum damals frisch gekürten SPD-Chef Sigmar Gabriel und den neuen Machtverhältnissen in der Partei aufgeschrieben. "Ihr werdet euch alle noch wundern, wie wichtig Europa ist", schimpfte Schulz.

Der Sozialdemokrat aus dem kleinen Städtchen Würselen in der Nähe von Aachen sollte recht behalten. Schulz, seit 1994 Mitglied des Europäischen Parlaments und wohnhaft im Dreiländereck Europas, ist für viele so etwas wie der Inbegriff des Europapolitikers. Einst belächelt als Nischenpolitiker, heute ein gefragter Mann.

Als Präsident des Europaparlaments spielt Schulz eine zentrale Rolle in den Verhandlungen zur Zukunft Europas. Wenn die EU-Regierungschefs so etwas wie die Bauherren für das neue Haus Europa sind, dann ist Schulz zumindest einer der Architekten. Mit seinem selbstbewussten Auftritt gegenüber den Länderchefs ("Notfalls muss es krachen") hat er sich Einfluss verschafft. Inzwischen sitzt das SPD-Präsidiumsmitglied beim Gipfel der Regierungschefs dabei. Sie wissen, dass Schulz als Vertreter der einzigen europäischen Institution mit einer demokratischen Legitimation künftig eine noch stärkere Rolle spielen wird. Schulz' Terminkalender ist prall gefüllt — und nicht nur Journalisten wollen mit ihm über Europa reden. Auch die Kanzlerin ruft ihn gelegentlich an.

Schulz, einer der engsten Vertrauten von SPD-Chef Gabriel, steht beispielhaft für den Typus Politiker, der in der Euro-Krise an Gewicht und politischem Renommée gewonnen hat. Politiker, die mit ihren Themen noch vor wenigen Jahren abseitsstanden und im Zuge der europäischen Schuldenkrise ganz nach vorne auf die Bühne gerückt sind. Europa-Parlamentarier wie der CDU-Politiker aus Ostwestfalen, Elmar Brok, der CSU-Abgeordnete Manfred Weber oder der Deutsch-Franzose Daniel Cohn-Bendit (Grüne) sind inzwischen beliebte Referenten auf Berliner Veranstaltungen, Kongressen und in den Sitzungen der Parteigremien.

Journalisten und Wissenschaftler beraten mit den Europaexperten der Parteien über Auswege aus der Krise und Visionen für das Europa der Zukunft. In den Medien ist der Begriff "Europa-Politiker" zur Chiffre für Krisenkompetenz und Expertentum mutiert. Wurden früher altgediente Politiker von den Parteimächtigen gerne zum Europaparlament abgeschoben, bemühen sich Bundestagsabgeordnete heute um einen möglichst engen Draht nach Straßburg und Brüssel.

Wer in seiner politischen Vita die Station Europa angeben kann, wie der Ex-Europa-Abgeordnete und heutige NRW-Wirtschaftsminister Garrelt Duin (SPD) oder der frühere EU-Kommissionsbeamte und jetzige Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU), punktet bei Kollegen mit "Brüsseler Erfahrungen".

Von der Euro-Krise profitieren aber auch die Finanzpolitiker der Parteien. Otto Fricke, Chef-Haushälter der FDP-Bundestagsfraktion, hat sich in den vergangenen Monaten intensiv mit Euro-Rettungsschirmen, Zinsentwicklungen und Währungsfragen, Target-Salden und Ausfallrisiken befasst. "Es vergeht kein Tag, selbst in der Sommerpause, an dem in meinem E-Mail-Eingang nicht Neues zum Thema ESM, Euro oder Fiskalpakt eingeht", berichtet Fricke.

Der Krefelder ist so etwas wie der inoffizielle Euro-Beauftragte der Bundestagsfraktion geworden. Kollegen fragen den Juristen vor einer Abstimmung schon mal um Rat oder laden ihn zu Vorträgen in ihre Wahlkreise ein. Neulich musste der Fraktionsgeschäftsführer im Präsidium der Bundespartei Details des Vertrages über den permanenten Rettungsschirm ESM erläutern. Um inhaltlich auf der Höhe zu bleiben, tauscht sich Fricke mit Ökonomen, Hedgefonds-Managern oder auch mal mit Bundesbank-Chef Jens Weidmann aus. In der Union haben Michael Meister, gelernter Mathematiker und finanzpolitisch versierter Fraktionsvize, und Steffen Kampeter, bestens vernetzter Finanz-Staatssekretär, die Rolle der Euro-Erklärer übernommen. Kampeter ist zum Hauptverteidiger der Europa-Politik von Finanzminister Wolfgang Schäuble aufgestiegen. Das Tageswerk des Ostwestfalen befasst sich fast nur mit dem Euro.

Durch die Krise und die permanente Präsenz der Europa- und Finanzpolitiker in den Medien steigt auch deren Akzeptanz und Gewicht in Partei und Fraktion. "Wer die Euro-Krise an vorderster Front übersteht, taugt zu Höherem. Das ist doch klar", sagt ein führendes Mitglied der Unions-Fraktion.

Das gilt auch für den Vorsitzenden des Europaausschusses im Bundestag, Gunther Krichbaum (CDU).

Noch vor einem Jahr kannte kaum ein Berliner Journalist oder Ministerialer den eher zurückhaltenden schwäbischen Wirtschaftsjuristen. Nun ist Krichbaum als Europaexperte gern gesehener Ansprechpartner bei ausländischen Politikern und Medien.

Der Schwabe wurde unlängst sogar in der "New York Times" zu der weiteren Entwicklung der Euro-Krise zitiert. In seiner Heimat ist die europapolitische Bedeutung des CDU-Politikers offenbar angekommen. Bei der Nominierung zum Bundestagskandidaten erhielt Gunther Krichbaum 86 Prozent der Delegiertenstimmen.

(brö)
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