Wie Brot verschwendet wird Kriegt Deutschland eine Wende gebacken?

Berlin · Im Land der Brotkultur wandern Tag für Tag Backwaren auf den Müll. Trotz Engpässen bei der Getreideversorgung und steigender Preise für Lebensmittel. Es mehren sich die Rufe, dass sich daran etwas ändert.

 Blick in eine Bäckerei in Münster (Symbolbild).

Blick in eine Bäckerei in Münster (Symbolbild).

Foto: dpa/Friso Gentsch

Im Schnitt sind es allein 200 Brötchen. Ein Gegenwert von mindestens 70 Euro, der „abgeschrieben“ wird. Jeden Tag. In einer einzigen Filiale einer mittelständischen Kostenpflichtiger Inhalt Bäckerei irgendwo in einer deutschen Großstadt. So berichtet es der Mitarbeiter des Familienunternehmens, das inzwischen rund 50 Verkaufsstellen unterhält.

Was passiert mit diesen Brötchen, Semmeln, Schrippen, Wecken? „Vieles wird weggeworfen“, sagt der Mitarbeiter, der lieber anonym bleiben will, weil er seinen Job nicht verlieren möchte. Obstkuchen oder Artikel mit Fleisch „wandern meist direkt in die Tonne“. Ein anderer Teil der sogenannten Retouren werde zu Tierfutter verarbeitet. Schließlich gebe es die Möglichkeit, Brot und Brötchen noch einmal zu verwenden, etwa bei der Produktion von Paniermehl. Nur einmal in der Woche verkaufe seine Filiale Brot von gestern, erzählt er weiter. Ach ja: Liegengebliebene Ware dürften er und seine Kollegen nach Feierabend „natürlich“ nicht mitnehmen.

Die Deutschen sind stolz auf ihre Brotkultur. Seit 2014 ist sie sogar in das bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes eingetragen. Kunden zwischen Flensburg und Passau können aus mehr als 3.000 Sorten wählen. Aber irgendetwas läuft in der Backrepublik Deutschland offenbar seit einiger Zeit schief. Und zwar schon lange bevor der Ukraine-Krieg die Preise für Getreide in die Höhe trieb.

Der Hunger in Afrika und Asien nimmt wieder zu. Der Klimawandel stellt unsere Art des Wirtschaftens endgültig in Frage. Und trotzdem landen hierzulande Brot, Kuchen und Semmeln auf dem Müll? Wer verstehen will, warum das so ist, bekommt es mit einigen Unbekannten in Statistiken zu tun. Mit Ministerien, die sich im Kampf gegen Lebensmittelverschwendung ausbremsen. Und mit einem äußerst launischen Wesen - dem Verbraucher.

Frage an den Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks: Was weiß man dort über die Retouren? Dazu gebe es keine Erhebungen, heißt es: „Die Retourenquote variiert je nach Unternehmenskonzept und Lage der Filialen.“ Entsprechend unterschiedlich sei der Umgang mit dem Thema. Das Spektrum reiche von „Spenden von Backwaren an gemeinnützige Einrichtungen“ bis hin zum Einsatz von Software, „die sehr viele entscheidungsrelevante Informationen verarbeitet und eine Überproduktion von vornherein vermeiden hilft“.

Schließlich verweist der Verband auf die seit Mai vergangenen Jahres geltenden Leitsätze für Brot- und Backwaren. Sie erlaubten, deutlich mehr altes Brot für neuen Teig wiederzuverwerten: bis zu 20 Prozent. Einen Haken hat die Sache allerdings: Backwaren aus Selbstbedienungstheken etwa in Supermärkten sind von dieser Art der Wiederverwertung ausgeschlossen.

Dies wiederum könnte mit dazu beitragen, warum Back- und Teigwarenhersteller bei Lebensmittelabfällen mit 686.485 Tonnen im Jahr zu Buche schlagen. Die Angaben stammen aus der „Baseline“-Studie des Thünen-Instituts. Sie beruht hauptsächlich auf Zahlen von 2015. Die Autoren weisen aber auch darauf hin, dass die Datenlage insgesamt sehr uneinheitlich sei.

Seit diesem Jahr muss Deutschland jährlich die EU-Kommission über die Lebensmittelabfälle unterrichten. Für das erste Berichtsjahr 2020 hat das Statistische Bundesamt im Auftrag des Bundesumweltministeriums und des Umweltbundesamtes 10,9 Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle gemeldet. Zur Berechnung dieser Mengen wurden laut Angaben der Statistiker bestehende amtliche Abfallstatistiken verwendet, die auf einer Befragung der Abfallentsorgungsanlagen beruhen. Das Problem: Einen eigenen Abfallschlüssel für Lebensmittel gibt es nicht, weswegen die Mengen durch zusätzliche Befragungen und Analysen ermittelt wurde.

Wer soll da noch den Überblick behalten? Unterdessen peilt das Bundeslandwirtschaftsministerium an, die Nationale Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung von 2019 auszuweiten: „Insgesamt wird es darum gehen, die gesamte Lebensmittelversorgungskette so auszugestalten, dass keine Überschüsse anfallen“ - also vom Acker bis zum Verbraucher. Das soll im Rahmen von Zielvereinbarungen geschehen: „Weitere Maßnahmen, auch gesetzliche, werden geprüft.“

Dem WWF, der 2018 die Studie „Unser täglich Brot“ herausbrachte, ist das zu wenig. Die Organisation fordert von der Bundesregierung, „dass sie endlich den Beschluss des Bundesrates zur Lebensmittelverschwendung vom 17. September 2021 aufgreift und entsprechend konkrete Umsetzungsvorschläge für eine gesetzlich verankerte Pflicht zur Reduzierung von Lebensmittelabfällen erarbeitet“.

Manche wollen nicht warten, bis der Gesetzgeber handelt. Vor dem „Restbrotladen“ der Hofpfisterei am Münchner Viktualienmarkt etwa stehen mehr als ein Dutzend Menschen und warten auf Einlass. Verkauft wird dort seit 1979 die Produktion vom Vortag zu besonders günstigen Preisen.

Das Unternehmen weist eine rund 700-jährige Geschichte auf und hat sich auf die Herstellung von Öko-Backwaren spezialisiert. Durch das Angebot solle der Anteil an Retouren so gering wie möglich gehalten werden, erklärt Marketing-Leiter Thomas Lillpopp. Viele Ketten fahren ein ähnliches Konzept, oft unter dem Namen „Gutes von gestern“. Seitdem die Lebensmittel teurer geworden sind, ist laut Lillpopp die Nachfrage gestiegen.

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Nachhaltig geht auch digital: „Too good to go“ (sinngemäß: Zu gut zum Wegwerfen) etwa wird vor allem in Städten intensiv genutzt: Bäckereien, Supermärkte oder Restaurants bieten in der App nicht verkaufte Brote und Kuchen, Obst und Gemüse oder Lebensmittel am Rande des Mindesthaltbarkeitsdatums sowie übrig gebliebene Speisen in Überraschungspaketen zu deutlich reduzierten Preisen an.

Der App-Nutzer bekommt alle aktuellen Angebote im Umkreis seines Standortes angezeigt, kann einen „Magic Bag“ reservieren, online zahlen und die Ware zu einem festen Zeitpunkt, meist kurz vor Ladenschluss, abholen. Nach Angaben des dänischen Start-Ups beteiligen sich in Deutschland inzwischen 14.000 Anbieter.

Ein Umdenken scheint einzusetzen. Aber nach wie vor steht bei vielen Verbrauchern frische Ware hoch im Kurs - selbst wenn es weh tut. „Immer wieder wollen Kunden die Brötchen, die gerade aus dem Ofen kommen“, berichtet der Mitarbeiter der Bäckerei. „Die werden dann sogar ungehalten, wenn ich denen sage, dass die Ware so heiß ist, dass ich mir die Finger verbrenne, wenn ich sie anfasse.“ Die Retouren, so seine Beobachtung, hätten während der Corona-Zeit sogar zugenommen. Der Konkurrenzkampf sei gnadenlos - und die Verbraucher erwarteten eine möglichst große Auswahl.

Einstweilen wird wohl weiter Brot in der Tonne landen. Wer sich daraus bedient, macht sich unter Umständen sogar strafbar, wie das Bundesjustizministerium betont. Das von den Grünen geführte Bundeslandwirtschaftsministerium befindet sich laut eigenen Angaben „zur Vereinheitlichung der Strafverfolgungspraxis“ im Austausch mit dem Justizministerium. Aus dem von der FDP geführten Haus heißt es: „Die Meinungsbildung innerhalb der Bundesregierung zu der Frage, ob hinsichtlich der unentgeltlichen Weitergabe von Lebensmitteln mit abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht, ist noch nicht abgeschlossen.“

Der Zentralverband des Bäckerhandwerks spricht von einem Dilemma für den jeweiligen Unternehmer: „Verhindert er nicht, dass sich jemand aus dem Müll bedienen kann, ist er grundsätzlich weiterhin für die Sicherheit des Lebensmittels verantwortlich.“

Der Nürnberger Jesuit Jörg Alt dringt seit langem auf eine Kursänderung in Sachen „Containern“. Er hält „dieses ganze Trara mit Haftungsfragen“ für einen Vorwand. Wenn Länder wie Italien, Frankreich, Spanien oder Tschechien solche Gesetze hinbekämen, „ohne dass die Bevölkerung sich vergiftet und der Einzelhandel wegen Klagen Pleite geht“, könne man so etwas auch von der deutschen Bundesregierung erwarten, sagt Alt. Er und seine Gemeinschaft hätten schon häufiger containertes Brot gegessen. „Wir sind nicht daran gestorben.“

(kna)
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