Interview mit AOK-Chef Wilfried Jacobs "Im Mittelpunkt muss der Patient stehen"

Düsseldorf · AOK-Chef Wilfried Jacobs spricht im Interview mit unser Redaktion über die gute und schlechte Gesundheitsreform und über die nötige Abschaffung der Praxisgebühr.

 AOK-Chef Wilfried Jacobs seit 54 Jahren im Dienst der gesetzlichen Krankenversicherung.

AOK-Chef Wilfried Jacobs seit 54 Jahren im Dienst der gesetzlichen Krankenversicherung.

Foto: Endermann, Andreas

Herr Jacobs, Sie sind seit 54 Jahren im Dienst der gesetzlichen Krankenversicherung. 18 Jahre lang haben Sie die AOK Rheinland/Hamburg geführt. Wie viele Gesundheitsreformen haben Sie erlebt?

Jacobs: Rund 20 werden es gewesen sein - und das waren eindeutig zu viele. Gerade die jüngsten Reformen haben das Gesundheitswesen komplizierter und die Bürokratie für Ärzte und Krankenkassen aufwendiger gemacht, ohne dass die Versorgung der Patienten nennenswert verbessert wurde. Heute schauen viele Ärzte länger auf den Bildschirm des Computers als auf den Bauch des Patienten. Das ist eine schlechte Entwicklung.

Welche Reform hat Sie besonders geärgert?

Jacobs: Zum Beispiel die Reform, die die Praxisgebühr einführte. Sie ist ein großes Ärgernis für Ärzte, Krankenkassen und Patienten. Der Aufwand steht in keinem Verhältnis zu ihrem Nutzen. Zudem hat die Praxisgebühr als Steuerungsinstrument versagt. Die Deutschen gehen weiterhin im Durchschnitt 16 Mal im Jahr zum Arzt und sind damit Weltmeister. RP: Nun will Gesundheitsminister Bahr die Praxisgebühr abschaffen ... Jacobs: Das begrüße ich. Allerdings können die Krankenkassen nicht auf die zwei Milliarden Euro Einnahmen aus der Praxisgebühr im Jahr verzichten. Der Gesundheitsminister muss schon sagen, woher die Krankenkassen dann das Geld bekommen.

Haben Sie einen Vorschlag?

Jacobs: Unsere Arzneipreise sind im Vergleich zum benachbarten Ausland zu hoch. Hier hat die Bundesregierung allerdings neue Gesetze auf den Weg gebracht, die dieser Entwicklung entgegen wirken.

Besonders gerne operieren Kliniken Hüften und Knie. Bei künstlichen Gelenken sind die Deutschen Weltmeister. Muss man diese Operationen beschränken?

Jacobs: Nein. Vor allem darf das Alter eines Menschen nie ein Grund dafür sein, ihm eine neue Hüfte oder ein neues Knie zu verweigern, falls dies medizinisch notwendig ist. Es wäre allerdings gut, wenn die Krankenkassen Direktverträge mit den Kliniken aushandeln könnten, denn die Qualität solcher Eingriffe ist sehr unterschiedlich.

Was würden Sie in solchen Direktverträgen regeln?

Jacobs: Die Qualität der Behandlung zu sichern sowie die Reha-Nachsorge noch stärker individuell auf den Patienten auszurichten. Manche Kliniken kommen bei Hüft- und Knie-OPs auf Komplikationsraten von 30 Prozent, während sie bei anderen Kliniken nur bei drei Prozent der Patienten liegen. Solche Unterschiede dürfen nicht sein. Wir brauchen hier größere Transparenz.

Wo wir bei Komplikationen sind - welche Ärztefehler treten besonders oft auf?

Jacobs: Zunächst einmal die Feststellung, dass die Medizin in Deutschland grundsätzlich auf einem hohen Niveau stattfindet. Im Jahr 2011 haben sich 874 Versicherte wegen Behandlungsfehlern an uns gewandt. Die Fallzahlen steigen leider an. Zu den häufigen Fehlern in Kliniken und Praxen gehört die mangelnde Qualifikation. Auch kommt es immer wieder vor, dass bei einer Operation Gegenstände wie Tupfer im Körper zurückgelassen werden. Aber auch Röntgenbilder werden falsch gedeutet oder Medikamente falsch verschrieben.

Was kann man dagegen tun?

Jacobs: Betroffene Patienten sollten sich stets an ihre Krankenkasse wenden, damit sie helfen kann. Und wir müssen offener mit Behandlungsfehlern umgehen. Jeder Mensch macht Fehler, auch Ärzte. Doch die meisten Fehler werden nicht aufgedeckt. Dabei sollten die Ärzte und Kliniken daran interessiert sein, die Fehler transparent zu machen, damit man daraus auch Erkenntnisse sammeln kann. Das neue Patientenrechtegesetz geht in die richtige Richtung.

Ein Dauerthema in NRW ist die Vergütung der niedergelassenen Ärzte. Bekommen die NRW-Ärzte zu wenig Honorar?

Jacobs: Wer hätte nicht gerne mehr Geld? Auch die nordrhein-westfälischen Ärzte werden gut bezahlt. Sie haben Jahr für Jahr höhere Honorare erhalten. Es gibt allerdings Verwerfungen der Honorarzuweisungen in bestimmten Fachgebieten und bei speziellen Leistungen.

Gleichwohl zahlen die Krankenkassen für dieselbe Leistung in Süddeutschland mehr Geld als in NRW. Das versteht niemand ...

Jacobs: Das liegt vor allem an der Verteilung der Honorare innerhalb der Ärzteschaft. Hier ist vorrangig die Kassenärztliche Vereinigung zuständig. Die Grundvergütung für niedergelassene Ärzte, die Regelleistung, ist zwar in NRW geringer, dafür zahlen wir aber an die Krankenhäuser deutlich mehr. So zahlen die Krankenkassen in NRW pro Bürger und Jahr 877 Euro an die Kliniken, in Bayern sind es 816 Euro und in Baden-Württemberg sogar nur 717 Euro. Ich bin allerdings dafür, das Honorierungssystem der Ärzte vom Grundsatz her neu zu überdenken und zwar so, dass qualitätsgesicherte Leistungen auch entsprechend höher bezahlt werden.

Wegen der guten Konjunktur kommen die Krankenkassen derzeit mit ihren Beitragseinnahmen gut aus. Viele haben sogar Überschüsse gebildet. Die AOK Rheinland/Hamburg auch?

Jacobs: 2011 haben wir bei einem Haushalt von 6,7 Milliarden Euro einen Überschuss von 135 Millionen Euro erzielt. Auch verfügen wir über ausreichende Betriebsmittel. Als gut planende Kaufleute werden wir das Geld wie auch gesetzlich gefordert den Rücklagen zuführen. Zudem können wir versprechen, dass es weder in diesem noch im nächsten Jahr einen Zusatzbeitrag gibt. Prämien werden wir allerdings nicht ausschütten.

Warum nicht?

Jacobs: Bereits 2013 kann es wegen der erwarteten Eintrübung der Konjunktur wieder sehr eng werden. Die Bürger wollen, so auch aktuelle Umfragen, lieber ein sicheres und sich weiter entwickelndes Leistungsangebot als eine marginale, wahrscheinlich nur einmalige Beitragsentlastung von vielleicht vier bis fünf Euro im Monat.

Wenn Sie nun zurückblicken: Was war Ihr größter Erfolg?

Jacobs: Aus einem klassischen öffentlich-rechtlichen Versicherer einen modernen Dienstleister gemacht zu haben. Die AOK Rheinland/Hamburg hat für ihren Service stets gute Bewertungen erhalten. Darauf können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Interesse unserer Versicherten stolz sein.

Wird es die private Krankenversicherung (PKV) in 20 Jahren noch geben?

Jacobs: Wenn sie so weitermacht wie bisher, dürften auf die PKV schwere Zeiten zukommen. Die hohen fast jährlichen Beitrags-Erhöhungen der privaten Krankenversicherer schrecken viele Kunden ab. Gerade ältere Menschen können das oft nicht mehr zahlen. Dagegen halten die gesetzlichen Krankenkassen die Beiträge schon seit längerer Zeit stabil — bei sehr gutem Leistungsangebot.

Am 29. Juni ist Ihr letzter Arbeitstags. Was machen Sie danach?

Jacobs: Ich habe ein gemeinnütziges Institut gegründet, das sich mit der Verbesserung der Abläufe im Medizinbetrieb beschäftigen wird. Im Mittelpunkt stehen die Versorgungsabläufe von Krebs- und Demenzpatienten. Hier wollen wir viele Patienten-Berichte über ihre Erkentnisse im Medizinbetrieb sammeln und auswerten. Bei aller notwendigen Ökonomisierung des Medizinbetriebes: Im Mittelpunkt muss der Patient stehen. Seine reale Welt, die er im Medizinbetrieb erlebt, muss für eine praxisorientierte Gesundheitspolitik die Handlungsmaxime sein.

Das Interview führte Antje Höning

(csi)
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