Analyse Warum Streiks notwendig sind

Düsseldorf · Eine Arbeitsniederlegung hat nur Sinn, wenn sie auch wehtut. Generationen von Arbeitern mussten sich Rechte erkämpfen, von denen wir bis heute profitieren. Den Streikenden darf es trotzdem nicht nur um die Mehrung ihrer Privilegien gehen.

Was Lokführer verdienen
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Foto: AP

Mehr als 100,000 Bergleute aus Nordrhein-Westfalen zogen 1991 pfeifend, buhend und brüllend durch das Ruhrgebiet und forderten den Rücktritt von Bundeswirtschaftsminister Jürgen Möllemann. Wütende Kumpel verbrannten sogar eine Puppe, die aussah wie der FDP-Politiker. Möllemann war in der Frage, wie viel deutsche Steinkohle noch subventioniert aus der Erde geholt werden soll, der Buhmann aller Bergleute. Er wollte die Subventionen kürzen - und damit die Solidarität mit den Kumpeln brechen.

Wer dabei war, konnte es spüren: den unbändigen Kampfgeist von Arbeitnehmern; ihre Überzeugung, dass man sich für eigene Rechte einsetzen muss. Ein paar Jahre später wurde das Absenken der Subventionen vereinbart. 2018 schließt die letzte deutsche Steinkohlezeche. Und trotzdem weiß jeder stolze Bergmann bis heute, dass eine Arbeitsniederlegung nur Sinn hat, wenn sie auch wehtut.

Das sieht die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) wohl ähnlich. Deren Mitglieder bei der Bahn haben in der vergangenen Woche von Dienstag bis Sonntag gestreikt. Es war der achte Ausstand in dem seit elf Monaten schwelenden Tarifkonflikt. Die einen sprechen von einer Frechheit, andere meinen: Wer für ein kaputtgespartes Unternehmen wie die Deutsche Bahn arbeitet, braucht starke Mitstreiter. Im Gegensatz zu anderen Berufen ist der Arbeitsmarkt für Lokführer begrenzt. Wollen sie tatsächlich etwas erreichen, brauchen sie die Gewerkschaft - als starke Organisation, die nicht nur droht, sondern auch kämpft.

Genau das haben Gewerkschaften schon immer getan. Zum Glück. Denn von den Errungenschaften profitieren viele von uns bis heute. Acht-Stunden-Tage sind nicht gottgegeben. Generationen von Arbeitern mussten sie sich erkämpfen. "Samstags gehört Vati mir", rief das Kind im Jahre 1956 von einem Plakat in die deutsche Wirtschaftswunderwelt hinaus, das die Gewerkschaften flächendeckend geklebt hatten, um für die Fünf-Tage-Woche zu kämpfen. Drei Jahre später war die Steinkohlenbranche die erste, die diese Forderung mit Leben füllte. Und plötzlich erinnerten sich die Deutschen daran, dass es ein Leben jenseits der Arbeit gibt.

Der erste bekannte Streik der Geschichte fand im alten Ägypten vor mehr als 3100 Jahren statt. Die Bauarbeiter, die den Totentempel von Ramses III. errichteten, weigerten sich weiterzuarbeiten, weil sie seit zwei Monaten nicht mehr bezahlt worden waren.

1974 wurde der Schlachtruf "Alle Räder stehen still, wenn Heinz Kluncker es will" berühmt. Der mächtige Gewerkschaftschef setzte damals nach nur drei Streiktagen elf Prozent mehr Lohn im Öffentlichen Dienst durch.

Der längste Arbeitskampf in der deutschen Nachkriegsgeschichte nahm dann am 26. November 1987 seinen Lauf. Die Männer von der Nachtschicht im Krupp-Hüttenwerk in Duisburg-Rheinhausen konnten die Nachricht nicht glauben: Ihre Hütte sollte dichtgemacht werden. Tausende Stahlarbeiter fürchteten um ihre Zukunft und gingen auf die Straße. Doch der Arbeitskampf der Kruppianer war vergeblich. Im Herbst 1988 endete der erste Arbeitskampf. 1993 folgte der zweite, doch am 16. August 1993 wurde das Werk endgültig geschlossen. Heute steht in Rheinhausen ein Logport - ein modernes Logistikzentrum.

Gewerkschafter werden pragmatischer

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Für die GDL kommt eine "Niederlage" nicht infrage. Doch viele Bundesbürger empfinden die Kampfmaßnahmen als überzogen. Das schadet auch dem Ruf des Deutschen Gewerkschaftsbundes und seiner acht Einzelgewerkschaften. Laut Hagen Lesch vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln ziehen immer weniger Beschäftigte aus der Gewerkschaftsmitgliedschaft einen Reputationsgewinn: "Viele halten sie schlicht für nicht notwendig." Die Folge: Von 11,9 Millionen DGB-Mitgliedern Anfang der 90er Jahre waren 2014 nur noch 6,1 Millionen übrig. In den vergangenen vier Jahren habe sich die Zahl der Mitglieder aber stabilisiert. Lesch zufolge liegt das auch an einem neuen Gewerkschafter-Typus: "Die meisten sind heute nicht mehr ideologisch verbohrt, arbeiten enger mit der Basis zusammen und handeln pragmatischer."

Die GDL verlangt fünf Prozent mehr Lohn bei weniger Arbeitszeit. Das klingt nach viel, aber dass Gewerkschaften hohe Forderungen stellen, gehört zum Tagesgeschäft. Die Ausgangslage bei den Lokführern ist dabei eindeutig: Ihr Einstiegsgehalt bei der Deutschen Bahn beträgt derzeit im Schnitt 2500 Euro brutto im Monat, nach 25 Jahren Dienst sind maximal 3500 Euro möglich. Allein der Zuschlag auf den Bonus, den sich die Bahnvorstände für 2014 selbst genehmigt haben, würde ausreichen, um den 20 000 Lokführern in der GDL ein Lohnplus von mehr als 300 Euro im Jahr zu ermöglichen.

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Bei Streiks heißt es gerne, die einen oder anderen bekämen zu viel oder seien privilegiert. Das ist leicht gesagt. Doch lässt sich wirklich festlegen, welche Bezahlung bei welchen Arbeitsbedingungen, welcher Verantwortung, welcher Qualifikation und welcher wirtschaftlichen Lage angemessen ist? Am Ende können nur die Arbeitgeber und Arbeitnehmer der jeweiligen Branche darüber entscheiden - und manchmal gehört dazu eben auch ein Streik.

Dass der in der Öffentlichkeit nicht immer so stark wahrgenommen wird wie bei den Lokführern, der Pilotengewerkschaft Cockpit oder in den Kitas, hängt vom betroffenen Wirtschaftszweig ab. 160 der 214 Arbeitskämpfe gingen 2014 auf das Konto der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. 2013 legten Beschäftigte im Einzelhandel ihre Arbeit bis zu 99 Tage nieder - doch nur wenige nahmen Notiz davon. Dabei erreichten die Streikenden viel: Der von Arbeitgeberseite zunächst gekündigte Manteltarifvertrag wurde wieder in Kraft gesetzt; der Lohn um 5,1 Prozent in zwei zeitlich versetzten Stufen erhöht.

Trotzdem gilt: Wer einen solch gewaltigen Hebel in der Hand hält, wie es die Piloten und die Lokführer tun, sollte besonders sorgfältig abwägen, wie er ihn benutzt. Er sollte den Menschen klarmachen können, dass dieser Konflikt die großen Dinge berührt. Fragen der Gerechtigkeit und Solidarität - und nicht nur der Mehrung von Privilegien, die anderen Berufsgruppen vorenthalten sind. Niemand vermag wirklich zu sagen, wie die Zukunft der Arbeit aussieht. Doch eins steht fest: Es wird auch künftig genügend Dinge geben, für die es sich zu streiken lohnt.

(RP)
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