Neun Jahre nach dem Lehman-Kollaps Nach der Krise ist vor der Krise

Düsseldorf · Neun Jahre nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman glauben viele, ein solches Desaster sei heute nicht mehr möglich. Aber die Niedrigzinsphase, die ein Segen für Kreditnehmer war, birgt neue Gefahren für das System.

Zehn Tage liegen im Juli 2007 bei der Düsseldorfer Mittelstandsbank IKB zwischen scheinbarer Normalität und Katastrophe. Zwischen zwei Pressemitteilungen, von denen die erste am 20. Juli beruhigen und Spekulationen über extrem große Risiken in der Bilanz durch schlecht besicherte amerikanische Hypothekendarlehen entkräften soll. Die zweite vom 30. Juli beinhaltet, dass die Bank am Abgrund steht.

Die IKB droht unterzugehen, weil sie sich mit den Papieren aus den Vereinigten Staaten verzockt hat. Sie wird mit Staatsmilliarden, mithin vom Steuerzahler gerettet und gewaltig gestutzt, ihr Chef Stefan Ortseifen wegen Kursmanipulation später zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Heute macht das Institut im Wesentlichen noch Mittelstandsfinanzierung und verdient Geld. Ein deutlich verkleinertes, aber profitables Geldinstitut — das in der kollektiven Erinnerung der erste große Fall der Finanzkrise in Deutschland geblieben ist. Das war schon vierzehn Monate vor der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers, deren Zusammenbruch im September 2008 zahlreiche Kollateralschäden auslöst. Niemand traut niemandem, Finanzströme versiegen.

Die Gefahr eines Flächenbrandes ist nicht gebannt

Auf den Tag genau neun Jahre nach dem Lehman-Kollaps sagen viele, eine neue Finanzkrise dieses Ausmaßes sei nicht denkbar. Das stimmt nur begrenzt. Ja, die Banken mussten riskante Geschäfte drastisch zurückfahren; ja, sie müssen mehr Eigenkapital vorhalten als früher; ja, das Investmentbanking, also das riskante Geschäft beispielsweise mit Firmenübernahmen und Börsengängen, lässt sich nicht mehr quersubventionieren. Das hat dazu geführt, dass sich viele aus der lukrativsten, aber auch riskantesten Sparte verabschiedet und einigen wenigen Großen das Feld überlassen haben.

Die Gefahr eines Flächenbrands ist damit aber nicht gebannt. Im Gegenteil: Zugespitzt könnte man sagen, das Krisenmanagement selbst habe neue Risiken geschaffen. Die extreme Niedrigzinsphase ist eines davon. Sie war die Folge des verzweifelten Versuchs, die aus Banken- und Staatsschuldenkrise entstandene Wirtschaftskrise vor allem in Südeuropa mit Hilfe billiger Kredite in den Griff zu bekommen. Aber das hat nur in Teilen funktioniert.

Die Gefahr (sieht man von den realen Vermögensverlusten vieler Sparer ab): Würden die Zinsen irgendwann rasch steigen, könnten manche Banken erneut in Not kommen. Denn sie selbst hätten ihr Geld dann langfristig zu niedrigen, also für sie selbst ungünstigen Konditionen verliehen und müssten sich nach einer Zinssteigerung selbst mit teurerem Geld refinanzieren. Die Folgen dieser Schieflage leuchten unmittelbar ein, und wie so etwas ausgehen kann, hat man bei der Hypo Real Estate gesehen (siehe nebenstehenden Kasten).

Also kann die Europäische Zentralbank (EZB) in ihrer Geldpolitik nur ganz behutsam vorgehen. Aus Sicht von Hans-Peter Burghof hat sie aber schon zu viel Zeit verloren. "Die EZB hat zu lange gewartet. Sie hätte viel früher eine zarte Zinserhöhung andeuten müssen", sagt der Wirtschaftsprofessor der Uni Hohenheim. Als Signal an verschuldete Staaten, dass die Schonfrist irgendwann vorbei ist; als zeitlichen Puffer, um Banken vor den Folgen einer zu schnellen Zinserhöhung zu bewahren, die notwendig wäre, wenn die Preise rasch steigen würden.

"Es wird massiv reguliert, aber zu wenig differenziert reguliert"

Auch die Regulierung könnte aus Burghofs Sicht negative Folgen für die Stabilität des Bankensystems haben. "Es wird massiv reguliert, aber es wird zu wenig differenziert reguliert", so der Ökonom. Folge: Auch kleinere Geldhäuser, Sparkassen und Volksbanken, werden mit massiven Kosten belastet, müssen Hunderttausende Euro aufbringen, um diverse Melde- und Dokumentationspflichten sowie Schwellenwerte für Kapitalanforderungen zu erfüllen.

Bei gleichzeitig schrumpfenden Erträgen in der Niedrigzinsphase bricht das Missverhältnis einigen Kleinen vermutlich auf Dauer das Genick. Sie müssten sich mit anderen zusammenschließen. Es könnten dann neue Großunternehmen entstehen, die das System aber fragiler machen, als es derzeit ist. Das Argument, Deutschland habe zu viele Geldhäuser, taugt also auch als Argument für mehr Stabilität in Europa. Die "Small Banking Box", eine nationale Bankenaufsicht für mittelständische Geldinstitute, könnte das Problem entschärfen, aber da sind die Franzosen bislang dagegen. Ende offen.

Und dann wären da noch die Vereinigten Staaten. Dort ist vor gut einer Woche Stanley Fischer, der Vizepräsident der Notenbank Fed, zurückgetreten. Er war ein Kritiker der Deregulierungspläne, mit denen der im vergangenen Jahr gewählte Präsident Donald Trump den Kreditinstituten im Lande das Leben leichter machen will — auch den kleinen. Es gebe beunruhigende Anzeichen für eine Rückkehr zu einem Zustand von vor der Finanzkrise, hat Fischer gesagt.

"Trumps Leute kommen von den großen Investmentbanken"

Der Zustand vor der Finanzkrise — das war jenseits des Atlantiks die Zeit, in der Investmentbanker im Zusammenhang mit dem Verkauf von Schrottpapieren falsche Angaben machten oder bei Sicherungsgeschäften gegen die eigenen Kunden wetteten. "Trumps Leute kommen von den großen Investmentbanken — das macht klar, wohin die Reise geht", sagt Ökonom Burghof. Frei übersetzt: Entfesselung der Kräfte, die das Chaos in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends möglich macht.

"Davon darf sich Europa nicht anstecken lassen", warnt auch der Finanzwissenschaftler Wolfgang Gerke. Wird es wohl auch nicht tun. Den Vorwurf, man habe Produkte gekauft, die man selbst nicht verstanden habe, wird sich die Bankerbranche hierzulande so kein zweites Mal machen lassen wollen.

Zumindest in diesem Punkt wird die im vergangenen Jahrzehnt entstandene Finanzkrise also vielleicht einzigartig bleiben. Auch ein Trost.

(gw)
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