Deutschland hinkt europaweit hinterher Mindestlohn: Fluch oder Segen?

Düsseldorf · Die FDP bewegt sich. Erstmals signalisieren die Liberalen die Bereitschaft, ihre Position beim Thema Mindestlohn zu überdenken. Die Union freut's. Die Opposition wittert Wahlkampf-Getue. Deutschland hat beim Thema Mindestlohn scheinbar Nachholbedarf.

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Foto: dpa-tmn, dpa-tmn

In vielen Bereichen nimmt Deutschland europaweit eine Vorreiterrolle ein. Experten attestieren dem größten EU-Staat, die Finanzkrise am besten zu umschiffen. Griechenland, Portugal, Spanien, Italien, Irland und Frankreich — die Liste der kriselnden EU-Staaten ist lang. Deutschland, so loben viele Finanzexperten, dient als Paradebeispiel für erfolgreiches Krisenmanagement.

Doch es gibt auch eine Kehrseite. Wirtschaftsfelder, in denen die Bundesrepublik europäischen Sanierungsfällen hinterher hinkt. Zumindest was die Entlohnung der Arbeitnehmer und die Sichtweise vieler Gewerkschaften betrifft.

Gewerkschaftsnahe Studie

Die Debatte um Mindestlohn - in Deutschland wird derzeit diskutiert, viele EU-Länder haben ihn zum 1. Januar angehoben. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung am Montag.

So haben 14 Länder in der EU zum 1. Januar 2013 ihren gesetzlichen Mindestlohn angehoben. Insgesamt verfügen sogar 20 der 27 EU-Länder über eine solche allgemein gültige Lohnuntergrenze. Deutschland nicht. Das Grundgesetz garantiert die Tarifautonomie und die Verhandlungen über die Anpassung des Lohns obliegen den Tarifparteien.

Krisengebeutelte Länder wie Irland oder Frankreich bieten Arbeitnehmern einen gesetzlichen Mindestlohn an, der zum Teil weit über dem liegt, was in Deutschland derzeit diskutiert wird. Frankreich zahlt seit Januar 9,46 Euro, was einem Plus von 2,3 Prozent entspricht.

Selbst irland zahlt Mindestlohn

Selbst in Irland erhalten Arbeitnehmer 8,65 Euro. Spitzenreiter ist laut Hans-Böckler-Stiftung Luxemburg. Hier werden Arbeitnehmer flächendeckend mit 10,83 Euro entlohnt, einem Anstieg von glatten vier Prozent seit 2012.

Den prozentual höchsten Anstieg vermeldet Litauen mit 24,9 Prozent. Der ausgezahlte Lohn beträgt indes lediglich 1,76 Euro. Das komplette Gegenteil: Unter dem Sparzwang der EU streicht Griechenland 22,8 Prozent des Mindestlohns (3,35 Euro).

Ein hoher Mindestlohn, so wie er Luxemburg, Frankreich oder den Niederlanden (9,01 Euro) gezahlt wird, ist indes kein Allheilmittel. Im Gegenteil: Nach Ansicht des Vorstandschefs der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-Jürgen Weise, müsse diese Debatte behutsam angegangen werden.

Zu hoch, zu niedrig

Zwar begrüßte er die Tatsache, dass über einen angemessenen Mindestlohn diskutiert wird. Er mahnte jedoch: "Untersuchungen zufolge vernichtet ein Mindestlohn, der zu hoch ist, Arbeitsplätze. Ist er zu niedrig, hat er aber kaum Wirkung."

In Deutschland zeichnet sich derzeit eine Diskussionsgrundlage beim Mindestlohn ab. Während die SPD pauschal eine flächendeckende Lohnuntergrenze von 8,50 Euro fordert, freut sich die Union über die ersten, liberalen Annäherungsversuche. Aber 8,50 Euro? Flächendeckend? Und in allen Bundesländern? So viel dürfte wohl feststehen: Diesem Vorstoß würde die FDP nicht zustimmen.

Führende Spitzenpolitiker aus Reihen der CDU/CSU und FDP können sich aber offenbar vorstellen, den bereits geltenden Mindestlohn in der Zeitarbeitsbranche als Richtschnur zu nehmen. 8,19 Euro im Westen, 7,50 Euro im Osten. Diskussionen folgen.

Union drückt aufs Tempo

An die Adresse der aufs Tempo drückenden Union sagte FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle am Sonntagabend im "Bericht aus Berlin", er könne sich "sehr wohl vorstellen, dass wir hier noch etwas zustande bekommen". Führende Koalitionspolitiker sehen eine Einigung sogar noch in dieser Legislaturperiode.

Den schwarz-gelben Sinneswandel beim Thema Mindestlohn sehen SPD und Grüne naturgemäß kritisch. Erst die Debatte um die mögliche Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften und nun auch noch die Lohnuntergrenze. CDU, CSU und FDP wildern im fremden Terrain. Die Opposition vermutet Wahlkampf-Getue.

Und so blieben die lautstarken Protestrufe der SPD nicht aus. Generalsekretärin Andrea Nahles kritisierte das Unionskonzept als "taktisches Manöver, sich sozial zu geben". Es gehe nicht darum, einen Begriff zu besetzen, sondern die Realität zu verändern. "Deshalb darf es keine Unterschiede nach Regionen, Branchen oder bestehenden Tarifverträgen geben", sagte Nahles der "B.Z. am Sonntag".

(nbe)
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