Verlierer der Inflation berichten „Obst und Gemüse sind für mich inzwischen Luxusartikel“

Duisburg · Sie verdienen nur wenig Geld, bangen vor jedem Einkauf und haben schon schlaflose Nächte wegen der nächsten Nebenkostenabrechnung. Drei Betroffene der Inflation berichten, wie es ihnen geht, seit die Preise stark steigen.

 Gemüse ist für die sechsfache Mutter Corina Murad zum Luxusprodukt geworden.

Gemüse ist für die sechsfache Mutter Corina Murad zum Luxusprodukt geworden.

Foto: Christoph Reichwein (crei)

Jessica Prebeza schläft schlecht, seit die Verbraucherpreise in Deutschland immer weiter steigen. Nachts wälzt sie sich im Bett hin und her, ihre Gedanken kreisen immer um dieselben Fragen: Wie bezahle ich den nächsten Einkauf? Bekommen meine Kinder genug zu essen? Kann ich mir Folsäure noch leisten? Prebeza, 35 Jahre alt, ist im dritten Monat schwanger und auf das Nahrungsergänzungsmittel angewiesen. Die alleinerziehende Mutter aus Duisburg bezieht Hartz IV, nach allen Abzügen bleiben ihr und ihren beiden Kindern pro Monat rund 400 Euro für Lebensmittel. „Für drei Personen und ein heranwachsendes Baby ist das nicht viel“, sagt Prebeza. „Ich drehe gerade jeden Cent zwei Mal um.“

Die Zukunft macht ihr so große Angst, dass sie kaum noch zur Ruhe kommt. Wenn sie auf ihrem Handy die Nachrichten liest, wird ihr übel. Als sie erfährt, dass sie zum dritten Mal schwanger ist, überlegt sie abzutreiben. „Ich wusste einfach nicht, ob ich noch ein Kind ernähren kann“, sagt die 35-Jährige. Dazu kommt, dass es sich um eine Risikoschwangerschaft handelt. Denn Prebeza leidet unter starkem Übergewicht. Als sie das erste Ultraschallbild sieht, bringt sie es aber nicht übers Herz. Das Kind soll leben. Und sie wird sich weiter einschränken. Im vergangenen Monat hat sie auf Folsäure verzichtet, weil ihre zwölfjährige Tochter Geld für einen Schul­ausflug brauchte.

Jessica Prebeza ist alleinerziehend und bezieht Hartz IV.

Jessica Prebeza ist alleinerziehend und bezieht Hartz IV.

Foto: Jessica Prebeza

Rund 3,6 Millionen Empfänger von Arbeitslosengeld II in Deutschland dürften gerade ähnlich unter der Inflation von 7,6 Prozent leiden wie Prebeza. Dazu kommen rund 1,4 Millionen Menschen, die Sozialgeld beziehen und diejenigen, die im Niedriglohnsektor arbeiten. Das war in Deutschland laut Statistischem Bundesamt 2021 jede fünfte Person. Und laut einer Umfrage der Bundesbank steigen die Inflationserwartungen privater Haushalte: 84 Prozent der Befragten rechnen in den kommenden zwölf Monaten mit einem weiteren Anstieg der Preise. Eine andere aktuelle Studie des Versicherers Allianz kommt zu dem Fazit, dass die Inflation die größte Sorge der Deutschen ist. Mehr als 57 Prozent gaben an, dass sie das Thema gerade am meisten beschäftige.

Für Corina Murad aus Dinslaken bedeutet das, mit ihrem Kontostand gegen Ende jeden Monats um 500 bis 800 Euro im Minus zu sein. Sie hat sechs Kinder, ihr Mann ist Aufzugsmonteur und Alleinverdiener, bekommt rund 1800 Euro im Monat. Dazu gibt es Kindergeld und Kindergeldzuschläge. Ihr Gesamteinkommen liege damit bei rund 4500 Euro, sagt Murad. Doch ihre Ausgaben für Lebensmittel haben sich fast verdoppelt. Vor Kurzem habe sie mit ihren Kindern Hamburger gemacht und für acht Pattys 45 Euro bezahlt. Sie ist froh, dass immerhin die Fleischpreise wieder etwas gesunken sind. „Aber Obst, Gemüse und Milchprodukte sind für mich inzwischen Luxusartikel“, sagt Murad. „Und das sind Lebensmittel, die wir täglich essen.“ Wenn sie daran denke, wie hoch die Nachzahlung für ihre Heizkosten im kommenden Jahr werden könnte, bekomme sie Schweißausbrüche. „Wir mussten letztes Jahr schon 1000 Euro nachzahlen. Wenn sich die Summe wie vorhergesagt verdreifachen sollte, ist das für uns nicht zu stemmen“, sagt die 38-Jährige. Sie ist der Meinung, dass die Löhne an die steigende Inflationsrate angepasst werden sollten.

Das sieht auch die 27-jährige Genoveva Jäckle so. Sie macht in Köln eine Ausbildung zur Fachkraft für Veranstaltungstechnik und verdient 573 Euro netto. „Bevor die Lebensmittelpreise so durch die Decke gegangen sind, hatte ich am Ende des Monats 20 bis 50 Euro übrig“, sagt sie. „Jetzt schränke ich mich immer weiter ein und habe am Ende gar nichts.“ Kostete der Wocheneinkauf zuvor 30 bis 50 Euro, sind es jetzt 60 bis 80 Euro. Konnte sie sich früher zwischendurch ein Buch oder mal eine neue Zimmerpflanze leisten, geht sie ihr ganzes Geld nun für Lebensmittel drauf. Und für FFP3-Masken. Denn Jäckles Immunsystem ist durch eine Krebserkrankung stark geschwächt. Also trägt sie noch immer jeden Tag Maske – zunächst die deutlich billigeren FFP2. Doch seit die Maskenpflicht fast überall gefallen ist, ist sie auf FFP3-Masken umgestiegen. „Die sind sicherer“, sagt sie. Zuletzt hat sie 20 Stück für 75 Euro bestellt.

 Genoveva Jäckle ist Auszubildende und hat am Ende des Monats kein Geld mehr übrig.

Genoveva Jäckle ist Auszubildende und hat am Ende des Monats kein Geld mehr übrig.

Foto: Genoveva Jäckle

Jäckles Freund Raphael J. ist Student und hat derzeit keinen Nebenjob. Mit ihm lebt sie mietfrei in einer Einliegerwohnung im Haus seiner Eltern. „Das ist mein großes Glück“, sagt Jäckle. „Sonst wäre ich jetzt obdachlos.“ Im Garten baut sie seit einigen Monaten Kohl, Paprika, Mangold, Brombeeren und Chilis an. Sie möchte den Eltern ihres Freundes etwas zurückgeben – und Geld für Lebensmittel sparen.

Prebeza, Murad und Jäckle eint nicht nur ihre prekäre finanzielle Situation. Sie haben auch die Hoffnung aufgegeben, dass die Verbraucherpreise in den kommenden Monaten wieder sinken werden. „Wie sollten sie?“, fragt Prebeza. „Wenn ich mir die Nachrichten so anschaue, wird es nur noch schlimmer werden.“ Ihr graut davor, mit ihren Kindern im Winter in einer kalten Wohnung zu sitzen – hochschwanger. Und ihre größte Angst ist es, dass ihr ungeborenes Kind Schaden nimmt – weil sie verzichten muss.

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