Fehlendes qualifiziertes Personal Was wirklich gegen den Fachkräftemangel hilft

Analyse · Die deutsche Wirtschaft sorgt sich seit Jahren um fehlendes qualifiziertes Personal – hat aber zur Lösung der Frage wenig beigetragen. Kann jetzt der Markt den Mangel beseitigen, wie einige Experten vorschlagen? Ganz so einfach ist es nicht.

Drei junge Männer arbeiten im Ausbildungszentrum der Siemens Professional Education an der Verdrahtung eines Schaltschranks.

Drei junge Männer arbeiten im Ausbildungszentrum der Siemens Professional Education an der Verdrahtung eines Schaltschranks.

Foto: dpa/Monika Skolimowska

Die Zahlen erscheinen klar und eindeutig. Rund 13 Millionen Erwerbstätige verlassen bis 2036 den Arbeitsmarkt – die Babyboomer der Geburtsjahre zwischen 1957 und 1969. Zugleich können die Unternehmen nach Schätzungen des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) derzeit rund zwei Millionen Stellen nicht besetzen. Schreibt man gar die Entwicklung bis 2060 fort, wie es das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg tut, wird sich die Erwerbsbevölkerung in Deutschland um ein Drittel reduzieren.

Als Lösung des Problems schlagen viele Experten vor, jährlich rund 400.000 Fachkräfte einwandern zu lassen. Zugleich soll die Stille Reserve des Arbeitsmarkts mobilisiert werden. Es geht um 3,1 Millionen Menschen, darunter viele Frauen. Die würden grundsätzlich gerne arbeiten, stehen aber wegen der Betreuung von Kindern oder weil sie nicht glauben, den richtigen Job zu finden, dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung.

Doch es ist fraglich, ob solche reinen Mengenverschiebungen den Fachkräftemangel lösen können. Am radikalsten tritt der Bonner Arbeitsmarktforscher Simon Jäger auf. Er leugnet, dass es überhaupt einen solchen Mangel gibt. „Wenn einem Unternehmen Fachkräfte fehlen, kann es das eigenständig ändern. Bietet es höhere Löhne oder auch bessere Arbeitsbedingungen an, wird es attraktiver“, sagte der Leiter des Ins­tituts zur Zukunft der Arbeit unlängst dem „Spiegel“.

Nach dieser Lesart regelt allein der Markt, also das Angebot und die Nachfrage nach Fach- und Arbeitskräften, die Mangellage. Es geht um hoch qualifizierte Arbeitskräfte, um die die Unternehmen konkurrieren müssen.

Richtig an dieser Argumentation ist, dass die Zahl der Stellen in einer Volkswirtschaft keine unveränderliche Größe ist, die man bei einem Überangebot an Arbeitskräften umverteilen soll oder bei einem Mangel durch ausländische Arbeitnehmer oder Frauen ausgleichen muss. In Deutschland ist die Zahl der Erwerbstätigen seit der Einheit 1990 von 39 Millionen auf jetzt fast 46 Millionen angestiegen. Sie kann ähnlich wieder schrumpfen. Arbeit wird dann ein knappes Gut. Die Entlohnung wird entsprechend steigen oder die Bedingungen (Homeoffice, weniger Wochenstunden, Elternzeit und Sabbatjahre) müssen sich verbessern.

Die deutsche Wirtschaft, das hat sie in der Vergangenheit, zuletzt in der Energiekrise, immer wieder gezeigt, kann sehr flexibel auf veränderte Rahmenbedingungen reagieren. Wenn viel Kapital vorhanden ist und Automatisierungschancen konsequent weiterentwickelt werden, steigt die Produktivität pro Arbeitsplatz so stark an, dass auch die Menschen in Ausbildung oder im Ruhestand ausreichend versorgt werden können. Allerdings sollten die Investitionen in Bildung und Forschung einen ganz anderen Stellenwert bekommen. Und das Eintrittsalter in die Rentenversicherung muss erhöht werden.

Schon daran wird deutlich, dass der Markt allein das Problem nicht lösen kann. Denn bestimmte Ausbildungsprofile – wie IT-Fachkräfte, Techniker und Ingenieure – fehlen in einem solchen Ausmaß, dass sie auch bei höheren Entlohnungen und besseren Arbeitsbedingungen für die Unternehmen nicht verfügbar sind. Die besseren Verdienstaussichten werden zwar auf mittlere Sicht zu mehr Studierenden oder Auszubildenden führen. Aber das wird Jahre in Anspruch nehmen. Hier können Einwanderer schneller die Lücke schließen, ohne die Existenz vieler Unternehmen zu gefährden.

Die Steuer- und Wirtschaftsberatungsfirma Deloitte hat in einer Studie ermittelt, dass 1,8 Millionen der bis 2030 entstehenden 2,1 Millionen neuen Jobs sich in nur drei Bereichen befinden: Gesundheit, Bildung sowie Unternehmensführung, Recht und Verwaltung. Hier wird der Mangel so stark, dass ohne zusätzliche Kräfte Stellen auf Jahre unbesetzt bleiben. Auch da helfen höhere Löhne kaum weiter.

Die gleiche Studie hält die Effekte der Automatisierung für begrenzt. So können acht Prozent der gesamtwirtschaftlichen Arbeitszeit durch eine bessere Datennutzung ersetzt werden, 15 Prozent der Handarbeit können künftig Roboter leisten. Das ist weit von den Werten entfernt, mit denen ein Institut der Universität Oxford vor fünf Jahren Furore machte. Danach würde rund die Hälfte aller Jobs durch Automatisierung wegfallen. So wichtig der Produktivitätszuwachs ist: Er kann lediglich einen Teil des Fachkräftemangels auffangen.

Die Klage von Industrie und Handwerk über fehlende Fachkräfte ist nicht neu. Zu lange haben sich Deutschlands wichtige Branchen wie die Autoindustrie, der Maschinenbau sowie die Elek­tro- und Chemieindus­trie, aber auch das Handwerk auf die Leistungsfähigkeit und die Qualifikation der Babyboomer verlassen. Zu wenig haben sie in die Attraktivität von technischen und hoch qualifizierten Arbeitsplätzen investiert oder sich um weibliche und ausländische Interessenten gekümmert.

Jetzt werden sie sich angesichts der Knappheiten mehr Gedanken machen müssen. Die Bundesregierung wird ihnen mit erleichterten Regeln für Einwanderung teilweise zu Hilfe kommen. Auch die Ausbildung dürfte einen viel höheren Stellenwert bekommen. Doch am Ende werden die Unternehmen mit den Arbeitskräften zurechtkommen müssen, die vor Ort sind. Und die werden ihre Bedingungen stellen, keine ganz schlechten Aussichten für die nachwachsende Generation.

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