Handelsverbands-Chef Stefan Genth „Es darf im Herbst keinen Lockdown geben“

Interview | Berlin · Der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes HDE spricht über die Folgen des Krieges und der Pandemie für die Branche sowie seine Forderungen an die Bundesregierung.

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Alle sagen, wir hätten keine Versorgungsengpässe in Deutschland, und doch hamstern die Menschen wir zu Beginn der Pandemie. Können Sie das noch verstehen?

Genth Das ist eine irrationale Verbraucherentscheidung, bei der das Bauchgefühl den Einkauf bestimmt. Und es ist offensichtlich ein deutsches Phänomen. In Italien und Spanien beispielsweise sind die Regale voll. Alles war nach dem Ende der Corona-Regeln eigentlich positiv auf den normalen Konsum eingestimmt, aber der Krieg hat die Verbraucherstimmung schwer getroffen. Einerseits gibt es die Hamsterkäufe als Vorsorge im Lebensmittelhandel, andererseits ist die Kaufzurückhaltung bei anderen Gütern groß. Die Frequenzen in den Innenstädten sind mit einem Minus von 32 Prozent gegenüber dem Niveau vor der Pandemie so schlecht wie zu Zeiten von 2G und 3G. Das hatten wir so nicht erwartet.

Warum hamstern die Deutschen denn so viel stärker als andere?

Genth Das müsste man eigentlich die Verhaltensforscher fragen. Unsere Lebensmittelversorgung ist sehr sicher. Das Hamstern hat aber auch ein Stück nachgelassen. Das Prinzip scheint urdeutsch, woran immer das liegen mag.

Wird das vor Ostern noch schlimmer?

Genth Das glaube ich nicht. Zu Ostern wird immer verstärkt eingekauft, aber das Kundenverhalten hat sich jetzt wie gesagt ein bisschen normalisiert. Der Lebensmittelhandel läuft ordentlich, die Leute verhalten sich offenbar besonnener als vor zwei oder drei Wochen. Dazu gehört auch, dass nicht alle am Samstag einkaufen sollten, sondern auch schon am Donnerstag. Und bitte nicht alle zeitgleich einkaufen, sondern auch außerhalb der Stoßzeiten. Und natürlich gern mit Maske.

Tatsächlich gibt es Lieferschwierigkeiten. Wo sind die besonders ausgeprägt, und können Sie mal ein paar Beispiele nennen?

Genth 88 Prozent der Unternehmen haben Probleme bei der Beschaffung von Waren. Betroffen sind alle, besonders der Bau- und Heimwerkermarkt, die Möbelbranche und der Lebensmittelhandel. Das liegt auch am neuen Corona-Lockdown in China und den damit verbundenen Schließungen von Häfen. Die wirken verzögert in Europa. Da können Lieferzeiten auch mal sechs bis acht Wochen länger sein, und das wird sich bis in den September hineinziehen. Es ist also beispielsweise auch die Wintermode betroffen.

Das heißt, ein Teil der Winterware kommt womöglich nicht?

Genth Wir beziehen ja nicht nur Ware aus China, sondern beispielsweise auch aus Bangladesch und Myanmar oder aus Afrika, wo Textilunternehmen mitunter auch eigene Werke haben. In Vietnam beispielsweise sind in der Pandemie die Produktions- und Lieferkapazitäten noch einmal deutlich aufgestockt worden.

Im Krieg hat laut Angaben des Versandhandelsverbandes BEVH auch die Dynamik des Onlinewachstums in vielen Bereichen des Handels nachgelassen. Was heißt das für die Gesamtperspektive des Handels 2022?

Genth Mit dem Ende der Corona-Maßnahmen ist auch die Nachfrage im stationären Handel gestiegen. Das war klar, dass sich das dann auch umgekehrt im Onlinehandel auswirkt, auch wenn das Wachstum da immer noch gewaltig ist. Zudem wirkt sich der russische Krieg in der Ukraine negativ auf die Konsumstimmung insgesamt aus, das trifft stationäre und Onlinehändler. Unsere Prognose für den gesamten Einzelhandel 2022 liegt bei drei Prozent Umsatzwachstum. Was das am Ende inflationsbereinigt heißt, müssen wir sehen.

Heißt?

Genth Wir sind zu Jahresbeginn real noch von einer schwarzen Null ausgegangen. Ob sich das angesichts der Inflation halten lässt, kann keiner sagen. Und es bleibt ja auch die Frage, wie sich, so lange der Krieg andauert, das Verbraucherverhalten entwickelt. Wir bleiben vorerst bei unserer Prognose. Aber wenn es beispielsweise ein Energie-Embargo gäbe – wonach es derzeit nicht aussieht –, würde die Industrie schwer getroffen, die Arbeitslosenzahlen könnten steigen, die Kaufkraft würde weiter sinken, und dann wäre natürlich auch die Inlandsnachfrage erheblich getroffen.

Sie haben mal gesagt, durch die Pandemie könnten zigtausende Verkaufsstellen verschwinden. Gilt das noch in gleichem Maß?

Genth Wir haben das ja noch mal gerechnet und sind zu dem Schluss gekommen, dass allein dieses Jahr 16.000 Geschäfte verschwinden könnten. Häufig stirbt der Einzelhandel leise, weil Inhaber nicht Insolvenz anmelden, sondern einfach das Gewerbe abmelden und das Geschäft schließen. Oft passiert das im ländlichen Raum, aber auch in Stadtteilzentren. Aber manchmal übernimmt ein Händler innerhalb einer größeren Verbundgruppe auch einzelne Filialen, und die bleiben dann doch erhalten. Tatsächlich wird aber vor allem der inhabergeführte Facheinzelhandel weniger.

Trifft das die Mittelstädte stärker als die Metropolen?

Genth Schließungen gibt es tatsächlich häufig im ländlichen Raum, aber auch in Stadtbezirkszentren. Das sieht man insgesamt in den 1-A-Lagen nicht so sehr, wie in den einzelnen Stadtteilen.

Geben manche auch auf, weil sie einfach nicht bereit sind, sich mit dem Onlinegeschäft anzufreunden?

Genth Das glaube ich nicht. Der Handel ist viel digitaler geworden. Es gibt nach wie vor sehr erfolgreiche stationäre Konzepte, die man nicht einfach durch E-Commerce ersetzen kann…

…welche?

Genth Im Textilhandel beispielsweise im Geschäft mit Kinderkleidung, oder im Schmuckhandel. Es wird immer Modelle geben, die überwiegend stationär sein werden, und solche, die mehr online machen. Ob jemand weitermacht oder nicht, hängt nicht allein an der Onlinefrage, sondern auch daran, ob die Branche eine Perspektive hat, ob der Stadtteil noch passt, und an anderem mehr. Im Textilhandel macht der Onlineanteil aber auch schon 30 bis 40 Prozent aus. Das funktioniert aber eben aus Kostengesichtspunkten nicht immer und überall. Da hilft auch nicht immer der Verkauf über eine Plattform, weil man die Marktplatzgebühren zahlen muss, und auch die sind erheblich.

Was das stationäre Geschäft angeht, beklagen viele Händler, dass die Kunden nach der coronabedingten Schließung noch nicht in dem Maß zurück sind, wie sich das der Handel wünschen würde. Ist die Angst der Menschen vor Ansteckung immer noch zu groß?

Genth Eins muss man klar sagen: Gegenüber dem Vorkrisen-Niveau fehlen dem Non-Food-Einzelhandel unserer jüngsten Umfrage zufolge immer noch 20 Prozent seiner Erlöse. Im Bekleidungshandel sind es 28 Prozent, in den Randgebieten teilweise nur acht Prozent. Noch mal: Der Krieg drückt auf die Verbraucherstimmung. Die Leute müssen mehr für Energie zahlen, viele haben derzeit einfach weniger Geld für den Konsum. Was Corona angeht: Die Kunden, die in die Städte kommen, kaufen auch ein. Jeder dritte Händler empfiehlt den Kunden das Masketragen. 80 Prozent der Unternehmen stellen fest, dass die Mehrheit der Kunden die Maske freiwillig weiter trägt. Das erhöht die Sicherheit.

Also keine Angst mehr? Und wie kommt umgekehrt die Verpflichtung zum Masketragen, die zehn Prozent der Händler ihren Kunden auferlegen, an?

Genth Wenn man das Hausrecht so ausübt, das eine Maskenpflicht besteht, kommt das natürlich nicht bei jedem gut an. Manche fühlen sich dann sicherer, andere wollen das nicht und kommen dann nicht. Insgesamt ist beim Einkaufen die Sicherheit aber viel größer als in anderen Lebensbereichen, wo Abstände schwieriger eingehalten werden können und die Aufenthaltsdauer länger ist. Und wir bringen zusätzlich Impfangebote in die Einkaufszentren, um die Impfquote und damit für die Zukunft vorzubauen.

Im September wird trotzdem die nächste Corona-Welle kommen. Was erwarten Sie von der Bundesregierung?

Genth Was ich an politischen Stimmen gehört habe, ist die Bereitschaft, gemeinsam noch mal zum Thema Impfpflicht zusammenzukommen, da. Vor allem, wenn sich die Lage verschärfen sollte. Aber das hilft ja nicht direkt, wenn eine gefährliche Mutante kommt. Wenn die Impfpflicht dann erst beschlossen wird, dann läuft man wieder hinterher. Deshalb wäre es besser gewesen, die Impfpflicht jetzt einzuführen. 

 Drohen dann wieder Zwangsschließungen?

Genth Der Bundesgesundheitsminister hat angekündigt, dass weitere Maßnahmen im Herbst erforderlich werden könnten. Dass er das jetzt schon tut, ohne die Lage im Herbst zu kennen, finde ich kühn. Man muss das Gesundheitssystem nachrüsten, wenn man schon keine Impfpflicht hinbekommt. Und was uns angeht: bitte nicht wieder 2G und 3G beim Einkauf! Das leistet keinen Beitrag zur Infektionsbekämpfung. Wir akzeptieren nicht, dass man das womöglich wieder ausgräbt. Einen neuen Lockdown im Herbst darf es nicht geben. Das wäre kein geeignetes und verhältnismäßiges Mittel. Da wäre die Maskenpflicht milder und besser. Im Flugzeug beispielsweise oder im ÖPNV beeinträchtigt uns das alle kaum, aber es schützt die Mitmenschen. Ich setze da auf eine Neufassung des Infektionsschutzgesetzes.

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