Athen Die Griechen verlieren die Geduld mit Tsipras

Athen · Trostlose Lage in Athen: Tausende demonstrieren gegen den Regierungschef, auch jene, die ihn wählten. Viele haben das Land verlassen.

Stavros steht mit dem Rücken zum Parlament, die Abendsonne scheint ihm ins Gesicht, aber er blinzelt nicht. In der linken Hand hält er ein Plakat mit der Aufschrift "Die Diebe müssen ins Gefängnis". Mit der rechten Hand hält er ein Paar Handschellen hoch. "Ich habe Tsipras gewählt, ich habe ihm geglaubt, aber er hat uns betrogen", sagt der 67-Jährige.

Tausende Menschen demonstrieren an diesem Abend auf dem Athener Syntagmaplatz gegen die Regierung von Alexis Tsipras. Das Motto "Paraititheite" ("Tretet zurück!"). "Ich habe seit Beginn der Krise 2010 ein Viertel meiner Rente verloren, jetzt soll ich noch einmal fünf Prozent weniger bekommen", klagt Stavros. "Und das ausgerechnet unter dieser Regierung!" Manche Kundgebungsteilnehmer haben selbstgemalte Plakate mitgebracht. "Lügner, Schufte, Verräter" steht mit Filzstift auf einem Schild. Ein anderer Demonstrant hat sich einen Zettel ans Hemd geheftet: "Nieder mit der Junta von Syriza".

Der Premier wird zwar nicht müde, den bevorstehenden Aufschwung herbeizureden. Tatsächlich aber geht es bergab mit der Wirtschaft. Nach einer Prognose der griechischen Zentralbank wird das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 0,3 Prozent schrumpfen. Seit 2010 hat die durchschnittliche griechische Familie ein Drittel ihrer Kaufkraft verloren. Besonders hart trifft es die Mittelklasse und die unteren Einkommensgruppen. Die Zahl der privaten Haushalte mit Einkommen zwischen 20.000 und 30.000 Euro fiel seit 2010 von 752.000 auf 555.000, die Zahl jener, die mit weniger als 12.000 Euro im Jahr auskommen müssen, stieg von 2,7 auf 3,7 Millionen. Das ist mehr als ein Drittel der Bevölkerung.

Viele Griechen hofften, Tsipras werde den Armutstrend umkehren, als er mit dem Linksbündnis Syriza Anfang 2015 die Wahl gewann. Wer sich nicht mehr an seine Wahlversprechen erinnert, konnte sie auf dieser Kundgebung im Originalton aus Lautsprechern hören: "Schluss mit dem Sparkurs, Rentenerhöhungen, Abschaffung der Immobiliensteuer, Verdoppelung des Arbeitslosengeldes..."

"Nichts davon hat er gehalten", sagt Akis Pavlopoulos. Er und andere Anwälte sind besonders schlecht auf die Regierung zu sprechen. Seit fast fünf Monaten streiken sie gegen massive Steuererhöhungen. Pavlopoulos rechnet vor: "Ein junger Anwalt mit etwa 20.000 Euro Jahreseinkommen muss allein für Steuern, Sozialversicherungsabgaben und Krankenkassenbeiträge fast 14.000 Euro abführen - wie soll er von 6000 Euro (500 Euro im Monat) eine Familie ernähren?"

Manche Kundgebungsteilnehmer haben sich mit Masken und Perücken verkleidet, eine junge Frau ganz in Weiß trägt dagegen Arbeitskleidung: Sie ist Krankenschwester im "Evangelismos", Athens größter staatlicher Klinik. "Ich habe Syriza gewählt, weil Tsipras Reformen im Gesundheitssystem versprach", sagt sie, "aber das Gegenteil ist passiert." Das Gesundheitswesen steht vor dem Kollaps. Landesweit können auf Intensivstationen Betten nicht belegt werden, weil es kein Personal gibt. 30.000 Planstellen in staatlichen Hospitälern sind nicht besetzt. Vielerorts fehlt es am Nötigsten wie Mullbinden und Kathetern. In manchen Kliniken werden Angehörige aufgefordert, Materialien für eine Operation zu "spenden", bevor der Patient in den OP kommt. "Auch in unserem Krankenhaus gibt es haarsträubende Missstände", sagt die Pflegerin. Ihren Namen will sie nicht nennen - aus Angst vor "Konsequenzen".

Tatsächlich hatte sich die Regierung Mühe gegeben, die Kundgebung zu stigmatisieren. Eine Regierungssprecherin bezeichnete die Versammlung als "landesfeindlich". Erziehungsminister Nikos Filis erklärte, wer gegen die Regierung demonstriere, befinde sich "an der Grenze zum Verfassungsbruch".

Dass "nur" etwa 5000 Menschen zu der Protestkundgebung kamen, zeigt: Im siebten Jahr der Krise haben viele Menschen resigniert. Wie Dimitris Plessas. Seit 2013 ist der 33-jährige Informatiker arbeitslos, trotz erstklassigen Diploms einer englischen Universität. Jetzt will er nach Bristol auswandern. Den Arbeitsvertrag hat er schon in der Tasche. Geschätzt 250.000 Akademiker und Facharbeiter haben Griechenland in den vergangenen fünf Jahren den Rücken gekehrt. Allein in Katar arbeiten rund 5000 griechische Ingenieure. Seit Tsipras' Amtsantritt 2015 habe sich der Exodus verstärkt, berichten Fachleute. Plessas bringt es auf den Punkt: "Hier habe ich keine Zukunft."

(RP)
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