Begehrt in der Krise Die Ökonomie des Klopapiers

Düsseldorf · Erst ist alles ausverkauft, dann drohen Überkapazitäten. Die explodierende Nachfrage nach Gütern wie Klopapier, Desinfektionsmitteln oder Beatmungsgeräten stellen die Produzenten vor kaum lösbare Probleme.

Derzeit sehr begehrt - Klopapier.

Derzeit sehr begehrt - Klopapier.

Foto: ZB/Hendrik Schmidt

Es wird Zeit, mit einem Mythos aufzuräumen. Angeblich sind es weltweit vor allem die Deutschen, die in der Corona-Krise Toilettenpapier hamstern und horten. Doch es ist anders. „Überall in der Welt war als erstes das Toilettenpapier vergriffen. Das ist kein deutsches Phänomen“, meint Michaela Wingefeld, die als Sprecherin von Essity, dem größten Hygienepapierhersteller in Deutschland, derzeit eine äußerst gefragte Person ist.

Gefragt sind auch die Produkte ihres Unternehmens, eines schwedischen Konzerns, der etliche renommierte deutsche Papierhersteller aufgekauft hat und in sieben Werken hier zu Lande produziert. „Alle Essity-Fabriken laufen, und wir haben die Produktion deutlich hochgefahren. Das gilt für Toilettenpapier ebenso wie für Küchentücher, Haushaltstücher oder Papierhandtücher“, heißt es aus dem Konzern, der allein in Neuss jährlich 110.000 Tonnen Toilettenpapier, Tempo-Taschentücher und  Zewa-Küchenrollen produziert.

Coronavirus: Hamsterkäufe - beliebteste Produkte der Deutschen
14 Bilder

Diese Produkte landeten bei Hamsterkäufen besonders oft im Einkaufswagen

14 Bilder
Foto: dpa/Fabian Sommer

Diese Geschichte gibt es auch zum Hören - exklusiv für Sie. Abonnieren Sie jetzt unsere RP Audio-Artikel in Ihrer Podcast-App!

Essity lässt die Maschinen rund um die Uhr laufen, hat die Wartungsintervalle verlängert und auf einfachere Sorten umgestellt, um Umrüstzeiten der Maschinen zu vermeiden. Und doch lässt sich die Produktion nicht so steigern, wie die Kunden im Supermarkt es gerne hätten. Andere Hersteller wie das Düsseldorfer Familienunternehmen Hakle, die fränkische Papierfabrik Fripa aus Miltenberg oder der US-Konzern Kimberly-Clark mit Werk in Koblenz haben das gleiche Problem. Sie fahren voll Last, aber den Bestellungen der Discounter kommen sie nicht hinterher.

Am Beispiel der Toiletten- und Hygienepapierhersteller lässt sich gut zeigen, wie schwer sich unsere marktorientierte und eigentlich hochflexible Wirtschaft mit empfindlichen Störungen tut. Denn in einer extrem arbeitsteiligen Wirtschaft mit ausgeklügelten Lieferketten und Just-in-Time-Produktion ist es nicht möglich, mal soeben die Produktion zu verdoppeln oder zu verdreifachen. Und Lieferungen aus dem Ausland fallen aus, weil dort der gleiche Mangel wegen der weltweiten Pandemie besteht.

In den Zeiten nach dem Mauerfall gelang es der westdeutschen Industrie die Herstellung um bis zu 40 Prozent hochzufahren, um die Nachfrage nach Westgütern zu befriedigen, während die ostdeutschen Fabriken brach lagen. Da ging die Wirtschaft kollektiv an die Kapazitätsgrenze. Bei einzelnen in der Corona-Krise gefragten Artikeln wie Toilettenpapier, Desinfektionsmitteln, Mehl und Pasta-Produkten, Hefe oder medizinischer Schutzbekleidung versagen hingegen die Hersteller. Und das ist am wenigsten ihre Schuld. Allein in der Papierindustrie dauert es anderthalb Jahre, um eine neue Anlage für die Massenproduktion von Hunderttausenden von Tonnen einzurichten. Da könnte die Corona-Krise schon eingedämmt sein und ein Impfstoff bereits zur Verfügung stehen. Die Produktion von anderen Papieren einzuschränken und auf den Anlagen statt Fein- nun Weichpapier zu produzieren, funktioniert ebenfalls nicht. „Wir können die Lager räumen, zusätzliche Lkw bestellen und die Maschinen ein bisschen mehr auf Verschleiß fahren“, meint Gregor Andreas Geiger, der Kommunikationschef des Verbands der deutschen Papierfabriken. „Aber mehr ist nicht drin.“ Die Herstellungsprozesse sind so aufeinander abgestimmt, dass für abrupte Wechsel in der Nachfrage kein Spielraum besteht.

Im Kern sind die Hersteller der so begehrten Waren darüber nicht einmal allzu unglücklich. Denn es ist absehbar, dass die Nachfrage genauso schnell abbricht wie sie gekommen ist. Die Niederländer hätten Klopapier gehortet, dass sie „zehn Jahre kacken könnten“, sagte der Haager Regierungschef Mark Rutte etwas uncharmant. Welches Unternehmen würde unter solchen Umständen komplexe Anlagen neu erstellen. Für Essity ist es deshalb klar, dass der begehrte Artikel erst dann wieder regelmäßig in den Regalen zu finden ist, „sobald die Verbraucher wieder zu ihrem normalen Einkaufsverhalten zurückkehren“. Das kann dauern.

Man mag bei Toilettenpapier noch schmunzeln, weil es andere Möglichkeiten der analen Hygiene gibt. Dramatisch wird es bei medizinischen Produkten wie Atemschutzmasken, keimfreier Kleidung oder den lebenswichtigen Beatmungsgeräten. Bei Letzteren hat sich der Unternehmer Stefan Dräger zu einer der zentralen Figuren im Kampf gegen das Coronavirus entwickelt. Seine Firma, das Drägerwerk in Lübeck, gehört zu den weltweiten Marktführern in der Herstellung von Beatmungsgeräten. Und doch räumt er im FAZ-Interview ein, dass eine „riesige Lücke“ zwischen Produktion und globalem Bedarf klaffe. „Allein bei den Beatmungsgeräten übersteigt die Nachfrage das weltweite Angebot derzeit um das Zehnfache. Bei den Schutzmasken um das 100-fache“, sagte der Unternehmenschef. Das Drägerwerk möchte nun in Windeseile eine Fabrik an der US-Ostküste hochziehen, um den gewaltigen amerikanischen Bedarf zu decken. 100.000 Beatmungsgeräte will US-Präsident Donald Trump ordern, das ist die derzeitige Produktionskapazität der ganzen Welt.

Und auch hier gilt. Sobald das Wüten der Pandemie nachlässt, sind gewaltige Kapazitäten entstanden, die dann ungenutzt bleiben. Vor diesem Dilemma stehen auch US-Autobauer wie General Motors, britische Triebwerksproduzenten wie Rolls Royce oder französische Industriegas-Hersteller wie Air Liquide, die nun auf Geheiß ihrer Regierungen auf Beatmungsgeräte umsatteln sollen. Es wird nicht schnell genug gehen, die langjährige Expertise fehlt. Und wenn die Anlagen zur Produktion einmal stehen, dann hat die Corona-Krise ihren Höhepunkt überschritten.

Und so viele Hersteller aus der Spirituosen- (Underberg, Diageo), Waschmittel- (Henkel) und Grundstoffchemie (BASF) sich nun bereit erklärt haben, auf die Produktion von Desinfektionsmittel umzuschwenken: So mal eben lassen sich die komplizierten und genau abgestimmten Produktionsverfahren nicht verändern. Es ist der Fluch einer auf den Normalfall optimierten Wirtschaft, der schnelle Anpassungen verhindert. Da sind Länder wie Israel, Südkorea oder Taiwan flexibler. Sie stehen unter Dauerbedrohung und können auch unter Stressbedingungen besser und professioneller improvisieren.

Die mächtige chemische und pharmazeutische Industrie in Deutschland wollte sich jedenfalls nicht auf eine Zusage einlassen, Krankenhäusern und Apotheken mehr Desinfektionsmittel zur Verfügung zu stellen. Eine neue Plattform, die die Verteilung der bestehenden Kapazitäten besser koordinieren soll, war alles, was die Branche dem besorgten Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) anbieten konnte. Das ist schon etwas, aber längst nicht genug. Den echten Krisenbelastungstest hat unsere Industrie noch nicht bestanden.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort