Frühjahrsbelebung bleibt aus Staatsdefizit steigt im ersten Halbjahr 2023 auf 42,1 Milliarden Euro
Wiesbaden · Wird Deutschland wieder zum „kranken Mann Europas“? Die Herausforderungen für Europas größte Volkswirtschaft könnten kaum größer sein.
Hohe Inflation, stockender Konsum, schwächelnde Weltkonjunktur - die deutsche Wirtschaft kommt in diesem Jahr einfach nicht in Schwung. Viele Volkswirte rechnen inzwischen mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung im Gesamtjahr. Europas größte Volkswirtschaft bewege sich „weiterhin im Dämmerzustand zwischen Stagnation und Rezession“, konstatiert ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski. Das am Freitag vom Statistischen Bundesamt für das zweite Quartal bestätigte Nullwachstum trage nicht gerade dazu bei, die Debatte über Deutschland als „kranker Mann Europa“ zum Verstummen zu bringen. Nicht alle Experten sehen die Lage so düster.
„Nach den leichten Rückgängen in den beiden Vorquartalen hat sich die deutsche Wirtschaft im Frühjahr stabilisiert“, analysierte die Präsidentin des Bundesamtes, Ruth Brand. Demnach stagnierte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im zweiten Quartal zum Vorquartal. Die Behörde bestätigte damit vorläufige Zahlen. Im Winterhalbjahr war die deutsche Wirtschaft zwei Quartale in Folge geschrumpft und damit in eine sogenannte technische Rezession gerutscht.
Die hartnäckige Inflation belastet Verbraucherinnen und Verbraucher und dämpft den Konsum, der eine wichtige Konjunkturstütze ist. Immerhin sanken die privaten Konsumausgaben nach Rückgängen im Winter nun nicht weiter. Die Unternehmen investierten sogar etwas mehr in Maschinen und Fahrzeuge. Die Investitionen am Bau stiegen preis-, saison- und kalenderbereinigt um 0,2 Prozent.
Schwache Auslandsnachfrage
Zugleich leidet die Exportnation Deutschland unter einer schwachen Auslandsnachfrage. Die Ausfuhr von Waren und Dienstleistungen sank zum Vorquartal um 1,1 Prozent. Die Importe stagnierten. „Solange das globale wirtschaftliche Umfeld schwach bleibt und die Inflationsraten auf relativ hohem Niveau sind, wird die deutsche Wirtschaft in der Bredouille bleiben“, sagt Thomas Gitzel, Chefvolkswirt der VP Bank.
Unverhohlen titelte das weltweit in Führungsetagen gelesene britische Magazin „The Economist“ in seiner jüngsten Ausgabe: „Ist Deutschland der kranke Mann Europas?“ Dazu ist ein Ampelmännchen zu sehen, das am Tropf hängt - ein wenig versteckter Seitenhieb auf die Regierungskoalition in Berlin.
Die Stimmung in den deutschen Chefetagen hat sich weiter eingetrübt. Der Ifo-Geschäftsklimaindex sank im August im vierten Monat in Folge: „Die Durststrecke der deutschen Wirtschaft verlängert sich“, stellte das Münchener Institut fest.
„Unser Land ist nicht mehr Wachstumslokomotive, sondern Bremsklotz - und das als immerhin die größte Volkswirtschaft Europas“, sagte DIHK-Präsident Peter Adrian der Deutschen Presse-Agentur. „Das Gute: Die Probleme sind lösbar. Es ist aber Zeit loszulegen.“
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, meint, Deutschland habe wirtschaftlich „goldene 2010er Jahre“ gehabt und sei heute global sehr wettbewerbsfähig: „Deutschland könnte jedoch wieder zum kranken Mann Europas werden, wenn es seine Stärken jetzt nicht klug nutzt (...).“
Haushaltsdefizit wird größer
Die Dauerkrisen der vergangenen Jahre hat Deutschland nach Ansicht der Wirtschaftsweisen Veronika Grimm gut gemeistert. Wie in der Pandemie nahm der Staat in der Energiekrise Milliarden in die Hand, um Unternehmen und Bürger zu entlasten. Dies riss jedoch Löcher in den Staatshaushalt: Der Fiskus gab im ersten Halbjahr nach vorläufigen Daten 42,1 Milliarden Euro mehr aus, als er einnahm. Bezogen auf die Wirtschaftsleistung lag das Defizit von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherung bei 2,1 Prozent. Das ist deutlich mehr als die 0,3 Prozent im ersten Halbjahr 2022.
Trotz des gestiegenen Defizits hielt Deutschland im ersten Halbjahr 2023 die europäische Verschuldungsregel ein. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt erlaubt den EU-Staaten ein Haushaltsdefizit von höchstens drei Prozent und eine Gesamtverschuldung von höchstens 60 Prozent des BIP. Derzeit sind diese Regeln wegen der Corona-Belastungen ausgesetzt. Über eine Reform wird diskutiert.
Die finanziellen Belastungen dürften nicht geringer werden. Grimm zufolge hat Deutschland reichlich Aufgaben vor sich. Das dürfe man „nicht kleinreden“: Abhängigkeiten von China im Handel und bei Rohstoffen, den Umbau der Energieversorgung und den Fachkräftemangel.
Hoffnung auf eine konjunkturellen Trendwende in den kommenden Quartalen macht die staatliche Förderbank KfW. „Es besteht Aussicht auf eine konsumgetriebene konjunkturelle Erholung ab Herbst dieses Jahres - wenn auch mit viel Gegenwind“, sagt KfW-Chefvolkswirtin Fritzi Köhler-Geib. Zudem sei der Auftragsbestand in vielen Unternehmen nach wie vor hoch. Die Produktion „Made in Germany“ komme also nicht zum Stillstand.