Düsseldorf Deutsche verdienen wieder mehr

Düsseldorf · Die Tariflöhne sind merklich gestiegen, obwohl Inflation und Produktivitätssteigerung niedrig waren. Das allerdings birgt Gefahren.

Tarifgebundene Arbeitnehmer in Deutschland haben sich in der ersten Jahreshälfte über deutliche Lohnzuwächse von teils mehr als drei Prozent freuen können. Das geht aus einer Übersicht des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden hervor. Demnach gab es die größten Lohnzuwächse für die Beschäftigten der ostdeutschen Bauindustrie mit 3,8 Prozent. Grund ist der von der IG Bau lange geforderte Angleich der Ost-Entgelte an das Westniveau. Bei den Kollegen im Westen stiegen die Löhne ebenfalls ordentlich um 3,1 Prozent. Um drei Prozent legten die Tarifentgelte zudem in der Druckindustrie, bei den Staatsbediensteten von Bund und Kommunen sowie in der papiererzeugenden Industrie zu.

Doch woran liegt es, dass die Abschlüsse in so vielen Branchen derart stark gestiegen sind - und sind die Erhöhungen berechtigt? Tarifforderungen werden von den Gewerkschaften in der Regel nach einer einfachen Formel aufgestellt: Preisentwicklung plus Produktivitätsfortschritt plus eine etwas im Vagen bleibende Umverteilungskomponente.

Dem Statistischen Bundesamt zufolge lag die Inflation im August bei gerade einmal 0,8 Prozent. Auch in den vergangenen Monaten bewegte sich die Inflationsrate rund um ein Prozent. Und auch die zweite Komponente spricht gegen die massiven Lohnsteigerungen: "Die Produktivitätsentwicklung war in den vergangenen Jahren nicht besonders hoch", sagt Holger Schäfer, Arbeitsmarktexperte vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW). "2012 ging sie pro Kopf betrachtet sogar um 0,7 Prozent, 2013 um 0,5 Prozent zurück."

Bleibt noch der dritte Bestandteil: die Umverteilungskomponente. Den deutschen Sozialpartnern wird regelmäßig vorgeworfen, sie hätten sich aufgrund ihrer Lohnzurückhaltung einen Wettbewerbsvorteil auf Kosten der europäischen Konkurrenz geschaffen. Könnte es also sein, dass die Gewerkschaften sich von der Bescheidenheit der vergangenen Jahre verabschiedet haben? "Ja, wir erleben Nachholeffekte", sagt IW-Experte Schäfer. Als Grund dafür sieht er jedoch weniger eine Abkehr von der Lohnzurückhaltung, sondern in erster Linie die veränderte Gesellschaftsstruktur: "Die Machtverhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern haben sich aufgrund des demografischen Wandels verschoben. Arbeitnehmer sind inzwischen in einer viel besseren Verhandlungsposition als noch vor ein paar Jahren."

Kritiker starker Lohnerhöhungen führen häufig an, dass so der Druck auf die Arbeitgeber wachsen könnte, aus dem Tarifvertrag auszuscheren. Mittlerweile werden nur noch 49 Prozent der Beschäftigten nach einem Branchen-, neun Prozent nach einem Firmentarifvertrag bezahlt. "Dieser Druck besteht natürlich", sagt Schäfer. "Die Frage ist allerdings, ob die Arbeitgeber dadurch tatsächlich sparen." Unter Umständen könnte ein kampflustiger Betriebsrat oder ein äußerst hoher Organisationsgrad im Unternehmen sogar zu höheren Lohnabschlüssen führen.

"Wahrscheinlicher als das Ausscheren aus dem Tarifvertrag ist, dass die Unternehmen bei überzogenen Lohnzahlungen zu Rationalisierungen übergehen", sagt Schäfer. Die neuen technologischen Entwicklungen, beispielsweise die stärkere digitale Vernetzung von Produktionsabläufen, biete den Unternehmen Rationalisierungs-Potenziale.

Trotz des kontinuierlichen Rückgangs der Tarifbindung in Deutschland dürfte die vom Statistischen Bundesamt erfasste Tariflohnentwicklung in den kommenden Monaten sogar noch größeres öffentliches Interesse genießen. Grund ist der Mindestlohn. Der wird zum 1. Januar 2015 in Höhe von 8,50 Euro eingeführt. Künftig soll alle zwei Jahre ein zu gleichen Teilen mit Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsvertretern besetztes Gremium über dessen Anpassung entscheiden - und das auf Grundlage der Tariflohnentwicklung.

(RP)
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