Videos erklären die NS-Vergangenheit So funktioniert Erinnerungskultur in sozialen Medien

Berlin · Weil die Ära der Zeitzeugen ausläuft, braucht es neue Wege des Erinnerns an die Nazi-Verbrechen. Die Plattform TikTok will mit einer klaren Haltung und kurzen Videos Millionen Jugendliche erreichen. Die Arbeit im Netz ist aber bisweilen ein Balanceakt.

 TikTok will im Netz an die Gräueltaten des Nationalsozialismus erinnern.

TikTok will im Netz an die Gräueltaten des Nationalsozialismus erinnern.

Foto: AP/Martin Meissner

Die Lebensgeschichte von Bernard Offen illustriert das ganze Ausmaß der Nazi-Verbrechen: Der 1929 in Krakau geborene Jude überlebte gleich fünf Konzentrationslager, darunter Auschwitz-Birkenau und Dachau. Die Entmenschlichung des Hitler-Regimes kostete mehr als 50 seiner Familienangehörigen das Leben. Damit Erinnerungen wie diese nicht in Vergessenheit geraten und die Ära der Zeitzeugen überdauern, hat Bernard Offen unlängst den Weg in die sozialen Medien gefunden. Auch auf der Videoplattform TikTok ist er aktiv.

Mit Blumenhemd, Hosenträgern und tragender Stimme richtet er sich direkt an Jugendliche: „Wenn ihr Menschen aller Art nicht respektiert und den wunderschönen Regenbogen nicht seht, mit all den Farben der Menschheit, dann respektiert ihr auch euch selbst nicht.“ Hunderttausende TikTok-Nutzer haben das Kurzvideo gesehen, in denen der heute 94-Jährige an das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte erinnert.

Und solche Klickzahlen sind für Zeitzeugen längst keine Ausnahme mehr. Die 99-jährige Holocaust-Überlebende Lily Ebert, die mit ernster Stimme die Verbrechen der NS-Herrschaft erklärt, bringt es auf zwei Millionen Follower und knapp 35 Millionen Likes. Ein TikTok-Video der KZ-Gedenkstätte Neuengamme bei Hamburg, das die Markierungen auf den Häftlingsuniformen erklärt, schauten über 400.000 Nutzer an.

Der Erfolg kommt jedoch nicht von ungefähr. TikTok hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Holocaust für junge Menschen greifbar zu machen. „Es ist eine große Verantwortung, die wir alle haben. Und wir nehmen sie besonders ernst“, sagte Tobias Henning, Deutschland-Chef von TikTok, am Dienstag bei einer Diskussionsrunde in Berlin. „Wir müssen das Wissen an die jüngere Generation weitergeben.“ Im Rahmen der Initiative „TikTok – Shoah Education and Commemoration" verfolge man das Ziel, deutsche Gedenkstätten und Museen zur Einbindung sozialer Medien in die Bildungsarbeit zu ermutigen.

Denn an Reichweite mangelt es der Plattform nicht: Weltweit liegt die Zahl der monatlich aktiven Nutzer von TikTok bei 1,5 Milliarden, in Deutschland sind es 19,5 Millionen – Tendenz steigend. Einer Umfrage von Statista zufolge ist TikTok inzwischen sogar beliebter als Snapchat und Twitter. Und das, obwohl das chinesische Unternehmen seit Jahren wegen mangelnden Daten- und Jugendschutzes in der Kritik steht.

Beim Thema Holocaust-Leugnung sei TikTok immer rigoros vorgegangen, so Tobias Henning. Es seien weltweit tausende Moderatoren tätig, die rund um die Uhr Hassrede und Antisemitismus von der Plattform verbannen. Zudem fänden Nutzer bei Videos, die sich mit dem Holocaust befassen, Links zu Informationsseiten. Und man unterstütze gezielt Inhalte rund um die NS-Vergangenheit.

Eine der Gedenkstätten, die TikTok als Plattform nutzen, ist das frühere KZ Mauthausen in Österreich. Pädagogin Marlene Wöckinger tritt vor der Kamera auf. Doch die Arbeit sei nicht immer leicht. Schließlich gilt die ungeschriebene Regel: Die Videos müssen kurz und unterhaltsam sein. „Ich muss eine Lebensgeschichte in einer Minute erzählen – das ist eine Herausforderung“, sagte Wöckinger. Die Filmchen, in denen die Österreicherin durch das KZ führt oder frühere Häftlingskleidung zeigt, sind mitunter nur zehn Sekunden lang, höchstens aber zwei Minuten.

In den Fokus rücke man zwei Fragen: Wie waren die NS-Verbrechen möglich und was hat das mit mir zu tun? Es sei wichtig, jungen Menschen ihren eigenen Bezug zur Historie aufzuzeigen. „Unser Ansatz ist dialogorientiert. Wir sprechen über Geschichte und lehren nicht ausschließlich. Das ist etwas, was auch bei TikTok geht“, sagte Wöckinger. Das Ergebnis: Zehntausende haben die Videos gesehen, viele davon kommentiert – und damit gegen das Vergessen angekämpft.

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