Gastbeitrag José Manuel Barroso "Das EU-Recht muss einfacher werden"

Der Präsident der EU-Kommission will Europa schlanker machen. Therapien, Friseur-Schuhe – nicht alles müsse einheitlich geregelt werden.

Gastbeitrag José Manuel Barroso: "Das EU-Recht muss einfacher werden"
Foto: ap, Francesco Malavolta

Europa muss in großen Dingen groß sein und sich in kleineren Dingen zurückhalten. Die Wirtschaftskrise hat deutlich gezeigt, dass wir Unternehmen unnötigen Verwaltungsaufwand ersparen sollten, wenn wir Wachstum und Beschäftigung fördern wollen. Das ist die Botschaft, die ich diese Woche im Europäischen Rat vorbringe.

Wirtschaftliche Möglichkeiten und gesellschaftliche Probleme kennen praktisch keine Grenzen mehr, so dass auch viele politische Lösungen nur noch greifen, wenn sie nationale Grenzen überwinden. Aber die Europäische Union kann nur dann wirkungsvoll auf die Belange der Bürger eingehen, wenn ihr verstärkt Unterstützung entgegengebracht wird. Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass viele Menschen und Unternehmen sich nicht wirklich mit der EU identifizieren. Sie beklagen sich über zu viel Bürokratie und finden, dass die EU sich zu oft einmischt, wo es gar nicht nötig wäre. Wir müssen diese Bedenken ernst nehmen.

Und genau das tun wir. Im Rahmen unseres REFIT-Programms, einer Initiative, die in Umfang und Zielsetzung alle bisherigen Anstrengungen übertrifft, haben wir das EU-Recht einer gründlichen Eignungsprüfung unterzogen. Die Absicht: EU-Recht soll schlanker, einfacher und kostengünstiger werden. Dies gilt für alle Politikbereiche, ohne die dahinter liegenden politischen Ziele infrage zu stellen. Wir haben ein offenes Ohr für Unternehmen und andere Interessenträger und reagieren auf ihre Sorgen. So hat die Kommission Unternehmen in ganz Europa befragt, um die Top 10 Bereiche zu identifizieren, in denen sie sich am schwersten belastet fühlen. Wir wollen dafür sorgen, dass europäische Verordnungen nicht über ihr Ziel hinausschießen, dass unverzichtbare Vorschriften so straff und eindeutig formuliert sind wie unsere Unternehmen es fordern, und dass unnötige oder unausgewogene Rechtsvorschriften gar nicht erst zur Verabschiedung vorgelegt werden.

Politische Entscheidungen müssen an richtiger Stelle getroffen werden, ob auf lokaler, nationaler oder europäischer Ebene. Dies ist ein grundlegendes demokratisches Prinzip. Da die Union der europäischen Bürger immer enger zusammenwächst, muss so offen und bürgernah wie möglich entschieden werden.

Nicht jedes Problem bedarf einer Lösung auf europäischer Ebene. Europa muss sich auf Bereiche konzentrieren, in denen sein Handeln einen echten Mehrwert erbringen kann. Ist dies nicht der Fall, sollte sich Europa nicht einmischen. Mit dem genannten Fitness-Programm für Rechtsvorschriften zeigt die EU, dass sie sowohl positive als auch negative Prioritäten setzen kann.

Wir haben in den vergangenen Jahren gute Fortschritte erzielt. Seit 2005 hat die Kommission 5590 Rechtsakte aufgehoben. Zwischen 2007 und 2012 wurden der Verwaltungsaufwand für Unternehmen um 26 Prozent und die Kosten um 32,3 Milliarden Euro gesenkt. Diese Einsparungen erfolgten in einer Zeit, in der unsere Unternehmen und die Verbraucher es am dringendsten benötigen. Wir entlasten kleine und mittlere Unternehmen, indem wir beispielsweise die Anforderungen an Kontrollgeräte (Tachographen) im Straßenverkehr lockern, die elektronische Rechnungsstellung für Mehrwertsteuerzwecke ermöglichen und Regeln und Gebühren für kleine und mittelständische Unternehmen im Chemiesektor vereinfachen. Zudem haben wir diese Woche eine neue standardisierte Mehrwertsteuererklärung vorgestellt.

Vor allem aber haben wir die Art und Weise verändert, wie europäische Gesetze gemacht werden: Wir erstellen anspruchsvolle Folgenabschätzungen, machen uns die Erfahrungen der Beteiligten vor Ort intensiver zunutze und schauen uns die Auswirkungen von Rechtsvorschriften genau an. Und wir gehen noch weiter: Wir fordern die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament auf, 21 wichtige Vorschläge zu verabschieden, die bereits auf dem Tisch liegen und zum Beispiel Verbraucherschutzvorschriften verbessern und die Verfahren für die öffentliche Auftragsvergabe straffen.

Bis Ende 2014 wird die Kommission in verschiedenen Bereichen knapp 50 Evaluierungen oder Fitness-Checks durchführen, um die Belastung aufgrund der Rechtsanwendung zu ermitteln; den Schwerpunkt bilden dabei die Bereiche Umwelt, Beschäftigung und Industrie. Uns ist sehr daran gelegen, dass wir dann die nötigen Konsequenzen ziehen und entsprechend handeln.

Wir haben außerdem klargestellt, welche Initiativen wir nicht weiterverfolgen und welche Rechtsvorschriften wir aufheben werden. Es gibt Dinge, die kein Eingreifen der EU erfordern. Wir werden keine EU-Vorschriften zur Behandlung von Rückenschmerzen erlassen. Trotz Forderungen aus der Branche wird diese Kommission auch keine Sicherheitsnormen für Friseure festlegen. Dies braucht nicht auf EU-Ebene geregelt zu werden. Es ist nicht unsere Sache zu entscheiden, welche Schuhe Friseure tragen sollen. Darüber hinaus werden wir eine erneute Prüfung von Vorschlägen vornehmen, die schon seit Jahren bei Europäischem Parlament und Rat auf dem Tisch liegen und deren Verabschiedung nicht vorankommt. Dies ist keine ideologisch motivierte Abkehr, sondern beruht auf der Erkenntnis, dass in manchen Dingen kein Handlungsbedarf seitens der EU besteht. Findet ein Vorschlag nicht die Unterstützung der Mitgliedstaaten, dann sollte die EU andere Prioritäten setzen und ihre Zeit und Energie in andere Themen investieren.

Es wird immer Stimmen geben, die Europa in allen denkbaren Bereichen, die das Leben der Menschen beeinflussen, handeln sehen wollen. Wir müssen jedoch gut abwägen und Entscheidungen auf der richtigen Ebene treffen. Die bestehenden EU-Rechtsvorschriften müssen vor allem ihren Zweck erfüllen. Natürlich brauchen wir in einem Binnenmarkt mit 28 Mitgliedstaaten ein gewisses Maß an Regulierung. Diese ersetzt häufig 28 unterschiedliche nationale Regelungen in einem Bereich und erspart damit unseren Unternehmen auch viel Bürokratie. Es ist jedoch von entscheidender Bedeutung, dass neue Vorschläge einen Mehrwert bieten, keinen unnötigen zusätzlichen Aufwand verursachen und zudem eine realistische Aussicht auf Erzielung einer Einigung haben. Nutzlose Vorschriften gehen zulasten der notwendigen Vorschriften.

Wir können uns keinen europäischen Rechtsrahmen leisten, der die eigene Handelsfähigkeit schwächt. Wenn mehr Integration und mehr Regulierung nötig sind, werden wir keine Angst haben, die Initiative zu ergreifen. Wenn jedoch Ziele auf anderem Wege und auf einer anderen Ebene besser erreicht werden können, wenn Weniger mehr und Einfach intelligenter ist, werden wir nicht zögern, dies auch zu sagen.

(RP)
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