Das Buch zur Pandemie Biontechs Kampf gegen Covid-19

Mainz · Bei Biontech startete die Entwicklung des Impfstoffes unter dem Codenamen „Projekt Lightspeed“, also Projekt Lichtgeschwindigkeit. Ein Buch beschreibt das Rennen gegen die Zeit, von dem nun hunderte Millionen Menschen profitieren.

 Ugur Sahin und seine Frau Özlem Türeci, die Gründer von Biontech

Ugur Sahin und seine Frau Özlem Türeci, die Gründer von Biontech

Foto: dpa/Bernd von Jutrczenka

Für wen könnte das erste Buch über Biontech interessant sein? Impfskeptiker erfahren, dass der Corona-Impfstoff des Mainzer Unternehmens eigentlich ein Zufallsprodukt einer Biotechfirma ist, die mit der neuen mRNA-Technologie den Krebs als größte Geißel der Menschheit bekämpften wollten. Für die mehr als 50 Millionen Bürger Deutschlands, die mit dem Biontech-Wirkstoff gegen die Pandemie geimpft worden sind, ist spannend zu erfahren, wie entschlossen das Führungsteam um Ugur Sahin und seiner Ehefrau Özlem Türeci die Entwicklung des Impfstoffes vorantrieb.

Sahin hatte am 25. Januar 2020 im Internet vom Ausbruch im chinesischen Wuhan gelesen, und während in Europa und den USA noch fast niemand über das Thema sprach, prophezeite er in einer internen Mail den Ausbruch einer weltweiten Pandemie mit Millionen Todesfällen. Der Aufsichtsrat gab sofort hohe Mittel frei, um das Gegenmittel zu entwickeln, seine Ehefrau war überzeugt: „Ich habe ihn sehr ernst genommen, weil er eine hohe Treffferquote hat, wenn es darum geht, aus komplexen Daten Schlussfolgerungen zu ziehen“. Fast beiläufig erzählt Autor Miller, dass der in Köln als Sohn eines Gastarbeiters aufgewachsene Sahin Mathematikbücher so schnell las wie andere Menschen einen Roman.

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Miller lernte das Unternehmen kennen als Frankfurt-Korrespondent der Financial Times aus London. Laut eigener Aussage sprach er mehr als 150 Stunden mit mehr als 60 beteiligten Personen. Das war nicht nur rein logistisch schwierig in Corona-Zeiten und wurde überwiegend per Videokonferenz organisiert. Miller musste sich auch einiges an Fachwissen aneignen, um die Grundlagen der Immunologie und der Biochemie zu verstehen. Viele Abschnitte sind leicht verständlich, manchmal verliert er sich aber in Details der Forschung, Sahin und Türeci sind formale Co-Autoren, sie haben also jedes Kapitel gegengelesen.

Auch für Anleger ist das Buch spannend: Denn der Mini-Firma Biontech, die Ende 2019 nur 1300 Beschäftigte hatte, gelang es in wenigen Monaten nicht nur, aus einer Reihe von Impfstoffkandidaten genau die richtige Molekülkombination zu identifzieren, um hohe Wirksamkeit mit geringer Dosis zu erreichen, während gleichzeitig der US-Konzern Pfizer als Partner für den Vertrieb und für klinische Studien gefunden wurde und Biontech in Marburg eine Anlage für die Massenproduktion aufbaute.

Wohl kein Unternehmen Deutschlands hat in den vergangenen Jahren seinen Aktienkurs so stark gesteigert. Der Börsenwert liegt bei knapp 70 Milliarden Euro, deutlich mehr, als Bayer auf die Waage bringt. Und obwohl der Biontech-Kurs von seinem extremen Hoch von 400 Euro Anfang August auf 250 Euro pro Anteilsschein abgerutscht ist, ist das Unternehmen ein lukratives Investment: Anleger, die Ende 2019 einstiegen, machten einen Kursgewinn von mehr als 500 Prozent, das Aktienpaket des Gründerpaars ist mehr zehn Milliarden Euro wert.

Dabei lebte das Duo mit seiner Tochter zumindest während der Entwicklung des Impfstoffes noch in einer Drei-Zimmer-Wohnung in der Innenstadt von Mainz und besitzt weder Auto noch einen Fernseher, wie der Leser des 352-Seiten-Buches erfährt. Wenn die Familie in Urlaub auf die Kanaren fuhr, nahm sie große Flachbildschirme mit, damit die Eltern dort am Impfstoff arbeiten konnten. Größte Sorge war, dass Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen durch eine Corona-Infektion ausfallen können – auch darum wurden Teströhrchen einer Partnerfirma übergeben, als ob es sich um ein Drogengeschäft handelte, schilderte Miller: „Zwei maskierte Männer trafen sich an einer Bushaltestelle gegenüber von Biontechs -Firmenzentrale, und der Austausch fand statt.“

Der faszinierendste Teil des Buches befasst sich mit dem sehr schnellen Start der Impfstoffentwicklung durch Biontech. Sechs Wochen, bevor die Weltgesundheitsorganisation WHO den Ausbruch des Corona-Virus zu Pandemie erklärte, hatte Sahin schon festgelegt, dass alle verfügbaren Kräfte des Unternehmens auf das Vorhaben konzentriert werden. Mehrere Impfstoffvarianten sollten parallel entwickelt und getestet werden, eher untypisch für die Branche. „Wir nennen es Projekt Lightspeed“ sagte er intern, also Projekt Lichtgeschwindigkeit, woraus sich auch der Buchtitel ergab.

Miller geht auch auf die Rolle des Staates ein. Positiv gewürdigt wird, dass das dem Bundesgesundheitsministerium unterstehende Paul Ehrlich Institut (PEI) sich sehr flexibel gab, die Tests für den Corona-Impfstoff von Biontech zu beschleunigen, indem mehrere Teststufen parallel statt hintereinander abgewickelt wurden. Schon am 23. April 2020 konnte die erste Impfspritze einem Freiwilligen verabreicht werden, gerade drei Monate, nachdem Biontech die Entwicklung begonnen hatte. Doch während Großbritannien, Israel und die USA sofort hunderte Millionen Impfdosen bei Biontech und Pfizer bestellten, nachdem die Unternehmen am 1. Juli eine hohe Wirksamkeit bei ersten Freiwilligentests bekanntgegeben hatten, feilschte die EU monatelang wegen Preisen und Lieferkonditionen. Miller rechnet vor, wie unsinnig dies war: Eine Studie habe gezeigt, dass eine Impfkampagne pro geschützter Person einen Nutzen von 5800 Dollar bringe, weil so weitere Lockdowns und Todesfälle verhindert würden.

Wie endete alles? Am 9. November 2020 gaben Biontech und Pfizer bekannt, dass das Vakzin beim Großversuch mit zehntausenden Patienten eine Wirksamkeit von mehr als 90 Prozent bewiesen habe, es gebe keine ernsthaften Nebenwirkungen. „Eine großartige Erleichterung“, erinnert sich Ugur, die größte Impfstoffkampagne in der Geschichte der Menschheit begann, die EU hat sich nun 1,8 Milliarden Dosen gesichert, der größte Auftrag jemals für eine Pharmalieferung aus Europa.

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