Digitalisierung made in Langenfeld Control Expert rückt Gutachtern zu Leibe

Langenfeld · Das Langenfelder Unternehmen will die Schadensabwicklung bei Autounfällen digitalisieren – und damit vermeintliche Tricksereien beenden. Die Branche sieht das Geschäftsmodell kritisch.

 Nicolas Witte leitet das Langenfelder Unternehmen Control Expert.

Nicolas Witte leitet das Langenfelder Unternehmen Control Expert.

Foto: Matzerath, Ralph (rm-)

Das Schaubild zeigt Pfeile und Kästen. Ein heilloses Durcheinander. Genau diesen Eindruck soll es auch erwecken. „Der Schadenprozess heute“ steht darüber. „Bislang dauert es im Schnitt 28 Tage, bis ein Kunde nach einem Unfall mit seinem Auto sein Geld bekommt“, sagt Nicolas Witte: „Wir arbeiten an einer Welt, in der Autofahrer ihren Schaden noch am selben Tag fair ersetzt bekommen.“ Witte ist Geschäftsführer von Control Expert. In der Branche ist das Unternehmen eine große Nummer, öffentlich ist die Firma aus Langenfeld allerdings nahezu unbekannt.

Achim Berg hatte sie trotzdem auf dem Schirm. Im Ehrenamt ist er Chef des Digitalverbands Bitkom, hauptberuflich Partner bei General Atlantic. In Deutschland ist der US-Finanzinvestor unter anderem in den Fernbusanbieter Flixbus investiert – und eben in Control Expert, wo man seit 2017 die Mehrheit hält. Damals waren die Langenfelder ein erfolgreicher deutscher Software-Anbieter für einen Nischenmarkt, mit Hilfe von General Atlantic wollen sie nun weltweit angreifen. „Der Markt ist riesig, es geht ja praktisch um alle Kfz-Schäden weltweit – in Deutschland sind es derzeit rund neun Millionen, in den USA 30 Millionen, in China 100 Millionen.“

Als Vater Gerhard Witte die Firma 2002 gründete, waren solche Visionen weit weg. Jahrelang hatte Gerhard Witte als Kfz-Sachverständiger Fahrzeuge nach Unfällen begutachtet und sich die Frage gestellt, ob es auch einfacher gehe. „Mein Vater hat sich damals von einer Versicherung alle Rechnungen von Glasschäden geben lassen und ist sie durchgegangen. Am Ende konnte er zeigen, dass 90 Prozent fehlerhaft waren“, sagt Nicolas Witte. „Pro Windschutzscheibe braucht man zum Beispiel immer eine Tube Kleber, die Werkstätten haben aber prinzipiell zwei aufgeschrieben. So konnten wir nachweisen: Liebe Versicherungen, ihr zahlt hier viel zu viel.“

Heute sind nach Angaben von Control Expert 90 Prozent aller Versicherungen Kunden des Unternehmens, aber auch viele Autohäuser und Leasinggesellschaften, für die man 2018 rund neun Millionen Vorgänge bearbeitete. Zu Umsatz oder Gewinn will Witte nichts sagen, man sei aber profitabel und auf dem besten Weg, einen dreistelligen Millionen-Umsatz zu erwirtschaften.

Seit General Atlantic eingestiegen ist, hat sich das Tempo in Langenfeld noch einmal erhöht. Möglich machen dies auch neue Technologien. Zehn Jahre lang hat Control Expert etwa an der automatischen Bilderkennung geforscht. „Dann kam Deep-Learning“, sagt Witte. Hinter dem Wort verbirgt sich eine Form des maschinellen Lernens, bei dem Algorithmen so trainiert werden, dass sie zum Beispiel immer sicherer Dinge wiedererkennen können.

„Im ersten Schritt haben wir dem System beigebracht, 26 außenliegende Karosserieteile zu erkennen – Kotflügel, Reifen, Stoßstange. Wir haben dem System so lange Beispiele gezeigt, bis es die Teile immer erkannt hat“, erklärt Witte: „Im zweiten Schritt haben wir dem System dann beigebracht, zwischen beschädigten und intakten Teilen zu unterscheiden.“ Nach und nach wurde das System immer besser – bis es anhand von Bildern und hinterlegten Preisen bestimmen konnte, wie viel eine Reparatur kostet.

Ähnlich verfuhren die Forscher mit Telematikdaten. „Ein Auto hat ganz viele Sensoren und weiß heute schon sehr gut, ob es einen Unfall hatte oder nicht“, sagt Witte: „Wenn man die Kräfte, die auf das Auto wirken, versteht, kann man irgendwann sehr genau sagen, wo und wie stark der Schaden am Fahrzeug ist.“ Anfangs tüftelte man mit Spielzeugautos, später führte das Team dann echte Crashtests durch und stellte Unfallszenarien nach.

„Mit diesen zwei Punkten revolutionieren wir die Schadenregulierung, weil wir die Besichtigung von Fahrzeugen überflüssig machen“, sagt Witte. Der Bedarf an Verbesserungen ist aus seiner Sicht groß – für Kunden und Versicherungen. Momentan, so sieht er das, wird bei der Abrechnung von Versicherungsschäden vielfach getrickst. „Das Honorar der Gutachter richtet sich bei der Beurteilung eines Unfallschadens nach der Gutachtenhöhe. Das setzt total falsche Anreize.“ Die Gutachter hätten also ein Interesse daran, möglichst hohe Schäden zu diagnostizieren. Und auch die Autowerkstätten profitieren in dieser Geschichte natürlich von teureren Reparaturen – oft sogar die Kunden. „Es ist sehr üblich, dass man im Schadensfall sein Auto repariert und von dem, was übrig bleibt, in den Urlaub fährt. Und genau das schlägt sich dann in den Beiträgen für alle Versicherten nieder“, sagt Witte. Das Auto solle qualitativ gut repariert werden, nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.

Es ist eine tolle Geschichte, aber es gibt auch Leute, die eine ganz andere Version erzählen. Zum Beispiel Elmar Fuchs. Der Geschäftsführer des Sachverständigen-Verbands BVSK spricht von einer „Kürzungsmaschinerie Control Expert“, zulasten der Geschädigten oder Versicherungsnehmer, die weniger Geld bekommen als ihnen zustünde. „Ich bin nun seit 25 Jahren in der Branche tätig und habe bis heute keinen Sachverständigen erlebt, der die objektiv zu ermittelnde Schadenhöhe manipuliert, um damit ein um ein paar Euro höheres Honorar zu erzielen“, sagt Fuchs. Und auch die Vorwürfe systematischer Tricksereien sind aus seiner Sicht eine Mär. „Meines Erachtens handelt es sich um Einzelfälle, während die systematische Kürzung, die durch Control Expert ermöglicht wird, eigentlich durch die Ermittlungsbehörden der Staatsanwaltschaft überprüft werden müsste.“

Die Kritik der Branche konnte das Wachstum von Control Expert bislang nicht aufhalten. Ist die größte Gefahr für den künftigen Erfolg also nur noch das autonome Fahren, durch das es theoretisch keine Unfälle mehr geben wird? Achim Berg lacht: „Das ist noch weit weg.“ Momentan spielt die Entwicklung dem Unternehmen Witte zufolge sogar noch in die Karten. „Wir können anhand unserer Daten zum Beispiel beweisen, dass Autos mit einem Einparksystem, das beim Rückwärtsfahren piept, mehr Parkschäden haben als Fahrzeuge, die das nicht tun. Mehr Technik sorgt momentan offenbar auch für mehr Chaos.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort