Christiane Benner im Interview "Wir müssen Berufsschulen besser ausstatten"

Düsseldorf · Die zweite Vorsitzende der IG Metall, Christiane Benner, spricht im Interview über den Mythos Teilzeitfalle, einen Rechtsanspruch auf einen Homeoffice-Arbeitsplatz und die deutschen Berufsschulen.

 Christiane Benner, zweite Vorsitzende der IG Metall.

Christiane Benner, zweite Vorsitzende der IG Metall.

Foto: IG Metall

Erinnern Sie sich daran, dass Sie in Ihrer Karriere jemals aus familiären Gründen kürzertreten mussten?

Christiane Benner Während meines Studiums ist meine Mutter schwer erkrankt. Das war eine enorme Belastung. Da habe ich bei der Diplom-Arbeit aufs Tempo gedrückt, um nach der Abgabe mehr Zeit für sie zu haben. Während des Arbeitslebens hatte ich aber noch keinen solchen Fall.

Die SPD macht Wahlkampf mit dem Konzept Familienarbeitszeit. Eltern und pflegende Angehörige sollen für zwei Jahre die Arbeitszeit reduzieren können und erhalten zusammen 300 Euro Familiengeld im Monat. Wieso begrüßt die IG Metall eine Maßnahme, die laut Gesamtmetall allein in Ihrer Branche bis zu 110.000 Jobs kosten würde?

Benner Männer und Frauen wollen eine partnerschaftliche Aufteilung familiärer Aufgaben. Das wissen wir aus vielen persönlichen Gesprächen und aus aktuellen Befragungen. Die Familienarbeitszeit ist dafür ein tolles Instrument. Die Arbeitgeber versuchen, mit fragwürdigen Horrorrechnungen eine gute Idee kaputtzureden. Dem darf man nicht auf den Leim gehen. Gleichermaßen torpedieren sie im Übrigen das Rückkehrrecht aus der Teilzeit . . .

. . . einen Gesetzesvorschlag von SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles.

Benner Wir erleben, dass gerade Frauen in der Teilzeitfalle festhängen. Die machen mit 80 Prozent den Löwenanteil der zehn Millionen Teilzeitkräfte aus. Viele Teilzeitkräfte wollen länger arbeiten, bekommen aber keine entsprechenden Stellen.

Gesamtmetall-Hauptgeschäftsführer Zander hat aber jüngst gesagt, die "Teilzeitfalle" sei wie das Ungeheuer von Loch Ness: von vielen erwähnt, aber noch nie nachgewiesen.

Benner Gesamtmetall muss sich bei diesem Thema mal ein bisschen besser sortieren. Sie erklären wortreich, dass es im Grunde keine Entgelt-Ungerechtigkeit zwischen Frauen und Männern gebe. Der Lohnunterschied sei lediglich eine Folge des hohen Teilzeitanteils der Frauen. Wenn man dieses Argument konsequent weiterdenkt, muss man doch erst recht den Rechtsanspruch auf Rückkehr in die Vollzeit fordern, um die Entgelt-Ungleichheit zu beenden. Davon wollen die Arbeitgeber aber auch nichts wissen. Wie Sie es drehen oder wenden, die Arbeitgeber setzen auf Blockade statt auf Gestaltung.

Gestalten wollen die Arbeitgeber die Ruhezeiten. Laut einer Arbeitszeitstudie von Gesamtmetall hängt nicht einmal ein Viertel der Befragten am starren Acht-Stunden-Tag. Klingt so, als seien die Beschäftigten in puncto Ruhezeiten gedanklich schon viel weiter als die IG Metall.

Benner Unsere Befragungen und das Feedback der Beschäftigten zeigen ein anderes Bild. Danach fühlen sich die Beschäftigten stark belastet. Man muss genau hinschauen. Natürlich sind die Leute extrem flexibel. Denken Sie doch mal an die Beschäftigten in Schichtarbeit, die nach Auftragslage arbeiten. Aber sie wollen ein Wörtchen mitreden und nicht alles vom Arbeitgeber diktiert bekommen. Bei allen Flexibilisierungs-Instrumenten, die es schon heute gibt, schlägt das Pendel sehr stark zugunsten der Arbeitgeber aus. Ich habe das Gefühl, sie versuchen jetzt mal eben unter dem Deckmäntelchen der Digitalisierung alle lange gehegten Deregulierungs-Wünsche durchzuboxen. Das wird es mit uns nicht geben!

Befürchten Sie ernsthaft, dass eine Aufweichung der Arbeitszeitregelung zu massenhafter Ausbeutung Ihrer Mitglieder führt? So kurzfristig denkt doch kein Unternehmer.

Benner Das Arbeitszeitgesetz ist Gesundheitsschutz für die Beschäftigten. Es ist wichtig und sollte nicht angerührt werden. Im Gegenteil: Es muss besser eingehalten werden. Die Forderungen aus dem Arbeitgeberlager halte ich für überzogen. Ihre Umsetzung wäre ein fatales Signal an die Belegschaft. So kann man nicht eine neue, digitale Arbeitswelt gestalten.

Die Arbeitgeber sagen, das Modell der elfstündigen Ruhezeit sei antiquiert und aus dem vorigen Jahrhundert. Das Gesetz passe nicht mehr in die digitale, globalisierte Welt.

Benner Die Globalisierung gibt es ja nicht erst, seit wir mobile Endgeräte haben. Und auch in einer digitalen Welt müssen die Menschen mal abschalten, um nicht irgendwann völlig ausgebrannt vom Stuhl zu kippen. Zudem verschweigen die Unternehmer gerne, dass es im Gesetz ja zahlreiche Ausnahmen gibt. Die reichen völlig aus. Irgendwann muss auch mal Schluss sein mit dem ständigen Draufsatteln bei der Flexibilität für die Unternehmen.

Auch die Beschäftigten fordern flexiblere Arbeitszeiten. Wie produktionsgefährdend sind Ihre Vorstellungen? Immerhin lässt sich nicht jede Tätigkeit am Fließband per Homeoffice erledigen.

Benner Es will doch niemand, dass ein Band stillsteht. Aber unterschätzen Sie nicht, wie weit die Industrie mit ihren technischen Möglichkeiten schon heute ist. Immer mehr Beschäftigte wollen und können auch von zu Hause aus arbeiten, um zum Bespiel die Pflege von Angehörigen oder der Kinder besser zu organisieren. Es gibt genügend Tätigkeiten - auch in der Produktion -, die sie per Remote-Steuerung von unterwegs erledigen können. Auch das ist eine Folge der Digitalisierung.

Sollte es einen gesetzlichen Homeoffice-Anspruch geben?

Benner Beim Thema Homeoffice sehe ich eher Tarifverträge und betriebliche Regelungen als Gesetze. Heute schon haben viele Unternehmen passgenaue Betriebsvereinbarungen zum Thema mobiles Arbeiten, zum Beispiel die Autohersteller und -zulieferer Ford in Köln, BMW, Bosch oder auch Daimler.

Wie zeitgemäß ist das, was an den Berufsschulen gelehrt wird, noch?

Benner Was in der Ausbildung vermittelt wird, ist schon heute eine gute Basis. Die Digitalisierung setzt ja nicht Grundlagen wie Mathematik oder Physik außer Kraft. Um die Auszubildenden für die Zukunft fit zu machen, müssen wir aber die Berufsschulen besser ausstatten und die Inhalte weiterentwickeln. Da besteht Einigkeit mit den Arbeitgebern. Fächer wie Datenanalyse oder Community-Management kann man auf den vorhandenen Lehrplan draufsatteln.

Martin Schulz hat zum Wahlkampfauftakt gleich einmal die Hartz-Reformen infrage gestellt. Die Arbeitgeber sprechen bereits von einer gefährlichen Rolle rückwärts. Zu Recht?

Benner Martin Schulz hat in einem schon etwas muffigen Raum namens Politbetrieb mal die Fenster aufgerissen und frischen Wind reingelassen. Ich finde es gut, dass wir jetzt leidenschaftlicher über gesellschaftliche Teilhabe und Arbeitsmarktpolitik diskutieren. Aber die IG Metall ist eine politisch unabhängige Einheitsgewerkschaft und bewertet auf dieser Grundlage die Programme aller demokratischen Parteien.

Ihre Mitglieder erhalten Spitzengehälter. Müssten Sie die Politik nicht eher dazu drängen, die kalte Progression abzuschaffen, als sich um Hartz-IV-Regelungen zu kümmern?

Benner Bei dem Wort Spitzengehälter fallen mir erstmal andere ein. Natürlich setzten wir uns mit Fragen der steuerlichen Gerechtigkeit auseinander. Niedrige Einkommen müssen steuerlich entlastet, Superreiche stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt werden. Aus diesem Grund sollten Einkünfte aus Arbeit und Kapitalanlagen gleich behandelt werden. Die Digitalisierung braucht einen Sozialstaat 4.0, der die Umbrüche in der Gesellschaft in Grenzen hält, damit niemand durch den Rost fällt.

Sprich: Die längere Zahlung von Arbeitslosengeld I halten Sie für den richtigen Weg.

Benner Ja, in Kombination mit Weiterbildungsmaßnahmen, um die Betroffenen fit für die digitale Arbeitswelt oder E-Mobilität zu machen.

Maximilian Plück führte das Gespräch.

(maxi)
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