Gastbeitrag Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Bau von Nord Stream 2 unverzüglich abbrechen
Meinung | Berlin · Als Konsequenz aus dem Giftanschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny fordert die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) einen Stopp des umstrittenen Pipeline-Baus. Die Bundesregierung und die EU müssten zu einer gemeinsamen Russlandpolitik finden, schreibt sie in ihrem Gastbeitrag.
Im Oktober 2003 wurde der Unternehmer und Kremlkritiker Michail Chodorkowski unter fadenscheinigen Gründen verhaftet. Im darauf folgenden „Yukos-Prozess“, benannt nach dem Unternehmen des Angeklagten, wohnte ich den Gerichtsverhandlungen als Beobachterin im Auftrag der Parlamentarische Versammlung des Europarates bei. Das Bild, das sich mir damals bot, war verheerend: Die Anklage war zweifellos politisch motiviert, rechtsstaatliche Standards wurden bewusst gebrochen. Am Ende war es nicht nachvollziehbar, wie es zur Verurteilung von neun Jahren Haft in einem Strafgefangenenlager kommen konnte. Schon damals war klar: Putins Russland ist kein demokratischer Rechtsstaat. Recht ist nicht mehr als ein Mittel des Unrechts.
Diese Entwicklung hat sich über die letzten Jahre beschleunigt und verselbstständigt. Oppositionelle und Kremlkritiker, darunter auch die Beteiligten des Yukos-Prozesses, werden staatlich verfolgt, verhaftet und auch ermordet. Giftanschläge sind dabei erschreckende Tradition. Vor zwei Jahren traf es den ehemaligen Agenten Sergei Wiktorowitsch Skripal, der Journalist und frühere Berater von Boris Nemzov, Wladimir Kara-Mursa war bereits zweimal Opfer von Giftanschlägen. Nun hat die Bundesregierung bestätigt, dass Russlands bekanntester Oppositionspolitiker, Alexej Nawalny, ebenfalls durch einen chemischen Nervenkampfstoff aus der geächteten Nowitschok-Gruppe vergiftet wurde. Der russische Botschafter wurde einbestellt und der Angriff von allen Seiten auf Schärfste verurteilt. Das sind wichtige erste Schritte, aber sie werden nicht reichen.
Frühere Anschläge auf Kremlkritiker wie den „Pussy Riot“-Aktivisten Pjotr Wersilow oder den Ex-Agenten Alexander Litwinenko konnten nie vollständig aufgeklärt werden, weil die russischen Verantwortlichen gar nicht erst daran dachten und die europäischen Staaten nicht hartnäckig genug nachfragten. Das staatliche Klima der Straflosigkeit in Russland befördert immer wieder Anschläge auf Kritiker des Systems, Nawalny ist der bekannteste und erfolgreichste unter ihnen.
Was nun folgen muss, ist eine starke und schnelle Antwort der EU. Tagelanges Lavieren wie bei den Wahlen in Belarus darf sich nicht noch einmal wiederholen. Eine Strategie mit klarem Kompass fehlt bisher und wird doch dringend benötigt. Der Anschlag auf Nawalny kann als Fanal dienen und muss zu einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik führen, die muss über das reine Bedauern und diplomatische Kritik deutlich hinausgehen. Worte sind in Russland nur Schall und Rauch, sie werden als Schwäche wahrgenommen.
Noch ist Europa Russlands wichtigste Bezugsgröße, sowohl als wirtschaftlicher und politischer Partner als auch durch die engen kulturellen Bindungen. Diesen Einfluss kann und muss die Europäische Union endlich konsequent nutzen, um die russische Regierung konkrete Konsequenzen für ihr verantwortungsloses Handeln spüren zu lassen.
Zunächst muss die Bundesregierung Nawalny politisches Asyl gewähren – sein Leben ist in Russland nach dem Giftanschlag nicht mehr sicher. Die dafür Verantwortlichen sollten von den EU-Mitgliedern gezielt ins Visier genommen werden, allen voran die zahlreichen halbstaatlichen Profiteure der russischen Regierungspolitik. Ihnen muss die Einreise in die EU durch Visaverbote verwehrt werden. Ziehen alle europäischen Staaten an einem Strang, können auch deren Vermögen konfisziert und illegale Waffen- und Geldwäscheströme nach Europa konsequent verfolgt werden. Diese Maßnahmen treffen die Personen, die hauptverantwortlich sind für die jahrelangen Brüche mit allen internationalen Konventionen, während die breite Bevölkerung davon verschont bleibt. Große Teile der russischen Bevölkerung sind liberal eingestellt und unzufrieden mit der gegenwärtigen Regierungspolitik. Diese Menschen gilt es, durch zivile Projekte weiter zu unterstützen.
Schließlich muss der Bau der umstrittenen Nord Stream 2-Pipeline, mit der russisches Erdgas direkt nach Deutschland transportiert werden soll, unverzüglich abgebrochen werden. Öl und Gas sind Russlands wertvollste Exportprodukte. Wenn eine Maßnahme die russische Regierung treffen kann, dann ist es das Scheitern von Putins Prestigeprojekt. Die Pipeline steht exemplarisch für die unbeständige Russlandpolitik der europäischen Staaten. Seit Jahren scheitern die EU-Mitglieder daran, sich auf gemeinsame Leitlinien gegenüber den russischen Völkerrechtsbrüchen zu einigen. Manche Länder wie Deutschland verfolgen starke wirtschaftliche Interessen, andere fühlen sich von der russischen Einflussnahme in Osteuropa bedroht. Zu lange war allein die Abhängigkeit vom russischen Erdgas ausschlaggebend für die zurückhaltende deutsche und europäische Russlandpolitik. Mit Blick auf die Taubheit der Bundesregierung gegenüber jeder Kritik beim Bau der Nord Stream 2-Pipeline stellt man fest: Sie ist es noch immer. Doch damit muss nun endgültig Schluss sein.
All dies kann nur über die europäischen Institutionen umgesetzt werden. Die Zeiten von reinen Lippenbekenntnissen und seichter Kritik gegenüber Russland sind endgültig vorbei. Wenn ein russischer Regierungssprecher in diesen Tagen behauptete, Navalny sei in Deutschland und nicht in Russland vergiftet worden, müssen alle europäischen Regierungen diese absurden Vorwürfe gemeinsam zurückweisen. Es ist ein erklärtes Ziel der russischen Außenpolitik, die europäischen Staaten gegeneinander auszuspielen und die Europäische Union als Institution zu schwächen. Jetzt können die europäischen Staaten zeigen, dass die russische Regierung mit diesem Vorhaben scheitern wird. Die EU muss eine gemeinsame Sprache in der Russlandpolitik finden und unmissverständlich klarstellen, dass wirtschaftliche Interessen Freiheit und Menschenrechte niemals dominieren dürfen.