BA-Chef Detlef Scheele im Interview "Vollbeschäftigung im Jahr 2025 ist unrealistisch"

Im Interview spricht Detlef Scheele, Chef der Bundesagentur für Arbeit, über Vollbeschäftigung, Hartz IV und einen sozialen Arbeitsmarkt.

Detlef Scheele (61) reist für seinen Job quer durch die Republik. Der Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA) in Nürnberg ist Herr über die 156 Agenturen für Arbeit. Wir erreichen ihn telefonisch während eines Besuchs der Agentur im sächsischen Freiberg.

Herr Scheele, Hartz IV hat einen schlechten Ruf. In der SPD, der Sie angehören, halten viele Hartz IV für einen historischen Fehler. Brauchen wir dafür einen neuen Namen?

Scheele Wir brauchen keinen neuen Namen, denn die Leistung heißt ja eigentlich Grundsicherung. Das trifft es auch genau: Sie ist die letzte Sicherung, die der Staat bereithält, wenn jemand sich selbst nicht mehr helfen kann. Es hat sich nur umgangssprachlich eingebürgert, die Grundsicherung Hartz IV zu nennen. Der Begriff ist nicht schön, weil er inzwischen als abwertend und diskriminierend wahrgenommen wird. Mir wäre schon wohler, wenn alle Politiker, die sich gerade darüber aufregen, den Begriff Hartz IV nicht mehr benutzen, sondern Grundsicherung sagen würden.

Nur der geringere Teil des Geldes für die Grundsicherung geht tatsächlich in die Vermittlung von Langzeitarbeitslosen in Arbeit. Warum haben Sie das nicht längst geändert?

Scheele Die komplizierten Regeln, die uns viel bürokratischen Aufwand machen, sind im Gesetz geregelt. Dafür sind wir nicht verantwortlich. Die gut gemeinte Einzelfallgerechtigkeit führt im Ergebnis zu viel zu viel Bürokratie. Deshalb fordern wir, zum Beispiel Hinzuverdienstgrenzen von Einkommen zu vereinfachen. So wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben.

Was ist bei den Hinzuverdienstgrenzen Ihr konkreter Vorschlag?

Scheele Ich plädiere für die Vereinheitlichung der Hinzuverdienstgrenzen, um bei den Aufstockerleistungen den bürokratischen Aufwand zu verringern. Im Moment sind die ersten 100 Euro Zuverdienst in der Grundsicherung anrechnungsfrei. Nach diesem Muster könnte man insgesamt auch bei darüberliegenden Beträgen verfahren. Wir brauchen ein paar wenige feste Beträge, statt für jeden einzelnen Aufstocker variable Grenzen beachten zu müssen. Einheitliche Regeln sollte es auch für die Anrechnung von Vermögen geben. Das würde uns die Arbeit enorm erleichtern und es müsste weniger Geld in den Verwaltungsetat umgeschichtet werden. Einheitliche Sanktionsregeln für Jugendliche und Erwachsene hingegen könnten uns dabei helfen, junge Menschen im Vermittlungsprozess nicht zu verlieren. Es ist niemandem geholfen, wenn ein junger Mensch seine Wohnung verliert, wenn bei der zweiten Pflichtverletzung seine Miete nicht mehr übernommen wird.

Es gibt Berichte über den Missbrauch der Aufstocker-Leistungen durch Bulgaren und Rumänen, die falsche Mini-Jobs vorweisen...

Scheele Ja, es gab Fälle, zum Beispiel in Bremerhaven, oder auch im Ruhrgebiet, wo Menschen aus Bulgarien und Rumänien von Schleppern angelockt werden und in kriminellen Strukturen Jobs angeboten bekommen, aufstockende Leistungen und Kindergeld beantragen - davon dann aber nichts behalten dürfen. In Wahrheit geht es hier um die Schleuser, die das deutsche Sozialsystem ausbeuten. Im Ruhrgebiet haben wir gerade gemeinsam mit dem Zoll festgestellt, dass Kindergeld für Kinder beantragt wurde, die gar nicht existieren, dass Arbeitsverträge von Arbeitgebern ausgestellt wurden, die es auch nicht gibt. Aber das lässt sich nicht pauschalisieren: Die meisten Bulgaren und Rumänen verdienen ehrlich ihr Geld, die Erwerbsquote liegt fast so hoch wie die von Einheimischen. Es geht hier um eine kleine Minderheit.

Die Union will bis 2025 Vollbeschäftigung erreichen. Ist das realistisch?

Scheele Wir haben in einigen Teilen der Bundesrepublik schon heute Vollbeschäftigung. Das gilt für Bayern, Baden-Württemberg, in Teilen des Ruhrgebietes und Ostdeutschlands. Das ist kein singuläres Phänomen mehr. Aber Vollbeschäftigung in allen Regionen Deutschlands, also auch im gesamten Osten oder überall im Ruhrgebiet, werden wir auch 2025 nicht erreicht haben, das ist unrealistisch. Da gibt es Menschen, die sind schon lange arbeitslos. Sie zu vermitteln wird schwierig, das geht vielleicht bis dahin über einen sozialen Arbeitsmarkt.

Einen sozialen Arbeitsmarkt mit Hunderttausenden ABM-Stellen hatten wir in den 90er Jahren schon mal. Man hat ihn abgeschafft, weil er ineffektiv und teuer war. Warum soll der jetzt wieder kommen?

Scheele Im Unterschied zu den 90er Jahren handelt es sich hier nicht um ein arbeitsmarktpolitisches Instrument zur Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt, sondern um ein sozialpolitisches Instrument für einen kleinen Kreis von Menschen, die zur Zeit faktisch nicht vermittelbar sind. Ich wundere mich manchmal, welche Aufmerksamkeit dieser soziale Arbeitsmarkt erlangt. Er spielt eine absolut untergeordnete Rolle. Es geht um einen potenziellen Personenkreis von 100.000 bis 200.000 Menschen, die sehr lange arbeitslos sind, die älter sind, gesundheitliche Einschränkungen und in der Regel keine Berufsausbildung haben. Bei ihnen kann man davon ausgehen, dass sie am ersten Arbeitsmarkt im Moment kaum mehr vermittelbar sind. Wir wollen erreichen, dass sie wieder mehr am sozialen Leben teilhaben.

Wachsen nicht neue Hartz-IV - oder besser Grundsicherungs-Generationen - heran, weil die Integration der Flüchtlinge so schleppend verläuft?

Scheele Da wird es entscheidend sein, wie gut Ländern und Kommunen die soziale Integration der Migranten und die frühkindliche Bildung schaffen. Gelingt es, die Eltern davon zu überzeugen, ihre Kinder früh in eine Krippe und in die Kita zu schicken, damit sie gut Deutsch lernen? Das ist der Schlüssel zum Glück. Wenn Migrantenkinder mit schlechten Sprachkenntnissen in der Schule gescheitert sind, dann können wir bei der Arbeitsagentur später nur noch schwer was retten.

Die Angst vor der Digitalisierung ist bei vielen Arbeitnehmern groß. Ist jeder zweite Job in Gefahr, wie manche Gewerkschaften behaupten?

Scheele Nein. Wir haben zur Zeit 32,5 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigte. Durch die Digitalisierung entfallen nach Berechnungen unseres Forschungsinstituts IAB etwa 1,5 Millionen Stellen, gleichzeitig werden 1,5 Millionen neue geschaffen. Es verändern sich durch die Digitalisierung die Anforderungen in allen 330 Ausbildungsberufen, sie werden anspruchsvoller. Das IAB geht davon aus, dass ein Viertel aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Berufen arbeitet, die eine Digitalisierungsfähigkeit von 70 Prozent haben, das bedeutet, dass sie sich sehr stark verändern werden. Alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen sich darauf einstellen, dass das Anforderungsniveau steigt. Sie werden nicht ihren Arbeitsplatz verlieren, aber es bedarf einer Anstrengung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, ein höheres Qualifikationsniveau zu erreichen.

Und wann und wie stark kann der Arbeitslosenbeitrag sinken?

Scheele Das entscheidet die große Koalition voraussichtlich vor der Sommerpause. Uns liegt daran, dass es künftig einen festen Mechanismus gibt, der festlegt, wann der Beitrag gesenkt und unter welchen Umständen er wieder angehoben wird.

Birgit Marschall führte das Gespräch.

(RP)
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