Düssseldorf Armutsrisiko steigt trotz Job-Boom

Düssseldorf · Der Sozialbericht für Deutschland, den Statistiker und Sozialforscher gestern veröffentlicht haben, zeigt eine zwiespältige Entwicklung. Die hat auch Auswirkungen auf die Gesundheit und die Lebenserwartung der Menschen.

Armutsrisiko steigt trotz Job-Boom
Foto: dpa, Arne Dedert

Rekordbeschäftigung ist eine der gängigsten Vokabeln, die benutzt werden, wenn jemand die aktuelle Entwicklung am deutschen Arbeitsmarkt beschreiben will. Rund 42 Millionen Erwerbstätige zählte die Statistik derzeit, so viel wie nie zuvor. Doch gleichzeitig wächst die Armut in Deutschland, wie der neue Sozialbericht zeigt. Sowohl bei den Jungen (zwischen 18 und 24 Jahren) als auch bei den Älteren (zwischen 55 und 64) ist jeder fünfte in Deutschland lebende Bürger armutsgefährdet. Insgesamt ist es jeder sechste. Als arm ist definiert, wer mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens im Land auskommen muss. In Deutschland gilt ein Single als arm, der weniger als 980 Euro im Monat hat.

Ein Grund ist die Zahl der Arbeitsstunden. Die ist binnen zwei Jahrzehnten um gut drei Prozent auf 58 Milliarden gesunken. Weil sie sich auch noch auf eine höhere Zahl von Arbeitnehmern verteilt, wird klar, dass die Zahl der Arbeitsstunden pro Beschäftigtem noch deutlicher gesunken ist — und zwar um ein Zehntel auf etwas weniger als 1400 Stunden pro Jahr. Dies liegt daran, dass viele Arbeitnehmer (vor allem Frauen) Teilzeitjobs haben, dass in vielen Branchen die Zahl der befristeten Arbeitsverträge zugenommen hat und dass etwa im Handel so mancher Werkverträgler nur in Stoßzeiten eingestellt wird. Das deutsche "Jobwunder" relativiere sich, sagte gestern Roderich Egler, der Präsident des Statistischen Bundesamtes.

Andererseits hat sich die Entwicklung im vergangenen Jahr wieder verändert. . 2012 ist eine halbe Million "regulärer Beschäftigungsverhältnisse" entstanden, während die Zahl der "atypisch" Beschäftigten (Minijobber, Zeitarbeiter und Teilzeitbeschäftigte) um rund 146 000 auf knapp 7,9 Millionen sank, wie das Statistische Bundesamt jüngst mitteilte. Die Zahlen aus dem Sozialbericht stammen noch aus 2011.

Trotzdem birgt die hohe Zahl der atypisch Beschäftigten nach Einschätzung der Statistiker und Sozialforscher ein wachsendes Armutsrisiko — mit Folgen. Beispielsweise fällt die Lebenserwartung umso geringer aus, je niedriger das Einkommen ist. Die mittlere Lebenserwartung von Männern der niedrigsten Einkommensgruppe liege bei der Geburt fast elf Jahre unter der von Männern der hohen Einkommensgruppe, sagt die Statistik. Bei Frauen beträgt die Differenz zwischen beiden Gruppen etwa acht Jahre. Zudem beurteilen die Menschen mit niedrigerem Einkommen ihre Gesundheit eher als schlecht als jene mit höheren Einkommen.

Und: Wer einmal arm ist, bei dem steigt das Risiko, dass er arm bleibt. Jedenfalls waren 40 Prozent derer, die in der Statistik für 2011 in die Armutsgruppe fallen, schon in den fünf Jahren zuvor arm. Zur Jahrtausendwende hat dieser Anteil noch bei etwa 27 Prozent gelegen.

An der wachsenden Armutsgefahr ändert auch die Tatsache nichts, dass das durchschnittliche Nettoeinkommen pro Haushalt 2011 um etwa zwei Prozent auf 2988 Euro stieg (brutto sogar um drei Prozent auf 3871 Euro). Denn die Schere bei den Einkommen klafft zum Teil weit auseinander. Jeder fünfte private Haushalt hat monatlich maximal 1300 Euro netto zur Verfügung, bei knapp drei Zehntel unter den knapp 8000 befragten Haushalten sind es nicht mehr als 1700 Euro. Umgekehrt verfügt ein Siebtel über ein Nettoeinkommen zwischen 5000 und 18 000 Euro. Und auch nach 23 Jahren deutscher Einheit liegt das Einkommen der Haushalte in den ostdeutschen Bundesländern bei nur 75 Prozent des Niveaus in den alten Bundesländern.

(RP)
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